Elmar L. Kuhn

Der schwäbische Adel im "Prozess der Zivilisation"


Rückfragen

Soweit die Zimmernsche Chronik. Die Frage ist, ob die Aussagen über die Lebenswelt des Adels eine verbreitete Realität wiedergeben oder eher die Abweichungen thematisieren. Die zeitgenössische Literatur spiegelt ganz ähnliche Verhaltensformen wie die Chronik. Die Fazetien von Heinrich Bebel, die Froben ja auch benutzt hat, enthalten eine Vielzahl ganz ähnlicher Schwänke, allerdings treten dort weniger Adlige auf, umso stärker sind Geistliche vertreten.40 Auch Michel de Montaigne, der Zeitgenosse Frobens, macht keinen Hehl daraus, dass er sich in sexualibus wenig vom schwäbischen Adel unterscheidet, aber sich maßvoller verhält und therapeutische Begründungen für sein Tun findet. Ehe hat nichts mit Liebe zu tun. „Amor kennt keine Regeln“. Das Lieben sei zwar „ein nichtswürdiges und ungehöriges Tun, da verboten und schandbar: doch auf gemäßigte Art betrieben, halte ich es gleichzeitig für gesund und dazu angetan, einen müden Geist und Körper munter zu machen“. „“etwas Erregung, ja – aber bitte keine Raserei!“41 Johann Huizinga urteilt für das Spätmittelalter allgemein: „Die täglichen Sitten hatten eine freimütige Unverschämtheit, die späteren Zeiten verloren gegangen ist.“42

So ist anzunehmen, dass die in der Chronik beschriebenen ungezügelten, wenig kontrollierten Verhaltensweisen verbreitet real praktiziert wurden. Die Verhaltensweisen des Adels unterschieden sich kaum von denen der verachteten Bauern, wie sie etwa in Heinrich Wittenwilers „Ring“ karikiert werden.43 Allerdings sind die ritualisierten Verhaltensformen an den Fürstenhöfen und die Regelungen für das Verhalten in den schwäbischen Adelshöfen in der Chronik weitgehend ausgeblendet.44

Wandlungsprozesse thematisiert Froben auf drei Feldern:

  • An die Stelle eines unkomplizierten, familiären Umgangs des Adels miteinander treten verstärkt formellere, ritiualisiertere Formen.

  • Statt einer einfachen, wenig aufwendigen Bekleidung der älteren Generation tragen die Jüngeren aufwendigere, modische Kleidung.

  • Statt individuell gewaltsam sein Recht einzufordern wird der Adel stärker in korporative Formen der Konfliktregelung eingebunden, die kollektive Interessenvertretung wird institutionalisiert.

Noch nicht absehen konnte Froben, aber wissen wir aus allgemeinen Darstellungen,

  • dass die Tischsitten zivilisierter geworden sind. 1558 konnte es noch heißen, dass eine Gesellschaft „wie die Säwe mit dem rüssel in der suppen ligen“ und 1714 wird moniert: „Es ist nicht anständig, die Suppe aus dem Napf zu trinken oder zu schlürfen“.45

  • Körperausscheidungen werden in der Folge verborgen.

  • Sexualität kann idR nicht mehr so exzessiv ausgelebt werden. Der Adel bekennt sich nicht mehr zu seinen unehelichen Kindern.

  • Im Zuge der Gegenreformation und einer besseren Bildung des Adels wird Glaube „theologisiert“. Von magischen Praktiken im Adel ist zumindest nicht mehr zu lesen.

  • Volkskultur und Adelskultur entwickeln sich auseinander, bis sich im 19. Jahrhundert wieder die Kultur des Adels sich der Kultur des Bürgertums annähert.

Ausmaß und Intensität des Verhaltenswandels werden deutlich, wenn wir die Bilder, die wir aus Filmen, aus der bildenden Kunst, den zeitgenössischen Quellen vom Adelsleben im 18. Jahrhundert mit den Schilderungen der Zimmernschen Chronik vergleichen. Die „höfische Kultur des 18. Jahrhunderts (hat) wenig gemein mit der Adelskultur des 16. Jahrhunderts“, urteilt Richard van Dülmen.46

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