Elmar L. Kuhn

Die Spiritualität ... im Spiegel der Visitationen


„Articuli“ und „Ordinationes“

Nach dieser exemplarischen Beschreibung einer Visitationsreise, die in der Regel weniger spektakulär verläuft, wenn Kommissare entsandt werden, sichte ich die „ordinationes“ und „articuli salutares“, die jeweils am Ende einer Visitation verkündet werden im Hinblick auf die wesentlichen Themen und ggf. auf unterschiedliche monita im Zeitverlauf.

Bereits um 1368 nach der ersten Gründungswelle der schwäbischen Klöster sollen „visitatores ad Alemaniam“ entsandt worden sein73. Um 1520 reist der Visitator Johannes „in Germaniam“74. 1595 kündigt der Ordensgeneral Simon Batulich wieder eine Visitation an, „nachdem lange Jahre hier die Provinzen des Reichs Kriegs und anderer Ursachen halber ... nicht visitiert worden“. Graf Johannes von Montfort als Landesherr und Vogt der Klöster Argenhardt und Langnau verbietet aber eine Einmischung in die „temporalibus“. Bei den „spiritualia“ soll alles beim alten Herkommen bleiben, da ja „der Katholizismus und dieser Paulinerorden nit erst bei 30, 40, oder 50 Jahren seinen Anfang und Ursprung genommen“, die vom Konzil von Trient geforderten Reformen sollen also unterbleiben75. Kurz darauf, 1601, visitiert auf Wunsch der österreichischen Behörden trotz des Protestes des Priors unter Berufung auf die Exemtion des Ordens ein bischöflicher Kommisar das Kloster Rohrhalden. Er hat den ersten erhaltenen Visitationsbericht verfaßt. Der bischöfliche Offizial Dr. Jakob Rassler findet dort keine der landesherrlichen Klagen über den üblen Lebenswandel bestätigt, beanstandet nur die fehlende Klausur und die chaotische Rechnungsführung76.

Die nächsten Generalvisitationen der schwäbischen Provinz, von denen wir wissen, 1608, 1616 und 1632 werden im Visitationsbericht von 1718 aufgeführt77. Nach dem 30jährigen Krieg setzen die Visitationen wieder 1651 zunächst noch in größeren Abständen ein, ab 1683 finden sie im regelmäßigen Turnus von drei Jahren statt78. Von den 15 Visitationen des 17. Jahrhunderts ernennt der General bei acht Angehörige der schwäbischen Provinz zu Kommissaren, bei sieben entsendet er Kommissare aus anderen Provinzen, oft Generaldefinitoren. Selbst reist kein General bis 1718 an. Von allen vorigen Visitationen kann der General 1718 nur von sechs spärliche Notizen ermitteln, von den Visitationen durch Angehörige der schwäbischen Provinz liegen ihm offenbar in der Zentrale überhaupt keine Berichte vor.

So weiß er aus dem ganzen 17. Jahrhundert nur von wenigen monita79, die auch 1718 wieder auftauchen: Schon 1604 und 1611 werden die Schwaben ermahnt, in den Häusern ab drei Konventualen im Winter die Matutin um Mitternacht und im Sommer vor Sonnenaufgang zu feiern. 1604 werden die Prioren aufgefordert, die Konventsgrößen am Einkommen der einzelnen Klöster zu orientieren. 1616 wird daran erinnert, daß am Montag und Mittwoch jeweils auf Fleischgenuß verzichtet werden soll, doch 1628 wird von der Abstinenz am Montag dispensiert. 1651 und 1692 hinterlassen die Visitatoren Mahnungen, die jahrzehntelang immer wieder erneuert werden: die Pflicht zum gemeinsamen Chorgebet auch in den Residenzen, zum Gebet des kleinen Offiziums Beatae Mariae Virginis in den formierten Konventen nach der Prim, das Fastengebot an Mittwoch, Freitag und Samstag80.

Von den „vielen heilsamen Anordnungen“ des Jahres 1651, um die Gebräuche der Provinz denen des übrigen Ordens anzupassen, findet der General 1718 keine mehr beachtet81. Wie wenig Wirkung die Anordnungen von 1718 haben, zeigt sich schon 1721 als der Visitator wiederum „sehr große Unterschiede von den anderen Provinzen bei den Gebräuchen im Chor, Refektorium und bei der Zeiteinteilung“ feststellt. Die Artikel von 1718 habe die Provinz „ in paucis satis“ befolgt, ja sie seien von den Provinzoberen ebenso wie andere Anordnungen der Ordenszentrale nicht einmal in den Klöstern bekanntgegeben worden82.

Im 18. Jahrhundert bis 1781 fallen die Visitationen nur 1706, 1709, 1727 aus. Von den 25 Visitationen des 18. Jahrhunderts reisen die Ordensgeneräle zu sechs selbst an, sechsmal schicken sie auswärtige Kommissare und dreizehnmal beauftragen sie Konventualen der schwäbischen Provinz. Außerdem führt 1732 der Generalauditor der Schweizer Nuntiatur in Luzern eine apostolische Visitation durch, für die Provinz die wohl teuerste, aber dennoch lohnend. Fast regelmäßig bittet die schwäbische Provinz, wegen der Kosten von einer Visitation durch den General oder einen auswärtigen Kommissar abzusehen und einen Kommissar aus der eigenen Provinz zu bestellen, ebenso häufig wie sie die Befreiung vom Besuch der Generalkapitel beantragt. Doch bedenken die Generäle, daß sie von einem auswärtigen Kommissar aufrichtigere Informationen erwarten können als von einem einheimischen, der nur Gutes berichte83.

Leider sind in den Generalakten nur für sieben Jahre des 18. Jahrhunderts die Visitationsartikel aufgeführt: 1718, 1721, 1724, 1730, 1739, 1763 und 176984. Ich unterscheide eine erste Gruppe von 1718 bis 1730 von der zweiten nach der wichtigen Zäsur der Apostolischen Visitation 1732. In den vier erstgenannten Jahren werden insgesamt 35 Artikel (davon allein 14 im Jahr 1718), dazu weitere 27 Artikel für einzelne Klöster verkündet, in den drei letzten Jahren sind es nur noch 13, dazu 1739 vier Artikel nur für Kloster Rohrhalden. Diese Zahlen können nur grobe Orientierungen geben, denn fast immer werden in einem Artikel die bisherigen Anordnungen bekräftigt und öfters werden in einem Punkt verschiedene Materien zusammengefaßt.

Mit dem Zentrum mönchischen Lebens, dem „officium divinum“ befassen sich die meisten Beanstandungen. Immer wieder werden die schwäbischen Mönche ermahnt, die Zeiten der Horen genau einzuhalten. Anstoß gibt vor allem die Matutin. 1718 wird noch gefordert, in beiden formierten Konventen Langnau und Rohrhalden die Matutin strikt um Mitternacht zu feiern. 1721 begnügt sich der Visitator damit, daß wenigstens in Rohrhalden der „chorus nocturnus de media nocte“ eingehalten wird, solange dort 12 Choristen weilen, weil wenigstens im Noviziat die „strictior observantia religionis“ praktiziert werden soll85. Langnau wird wegen der Studenten befreit. In Langnau und Bonndorf soll aber wenigstens an den Hochfesten die Matutin um Mitternacht gesungen werden. Sonst wie immer in den Residenzen Grünwald und Tannheim sammeln sich die Mönche um vier bzw. halb fünf Uhr zur Matutin. Von den Einzelweisungen seien hervorgehoben die Aufforderungen, das Officium parvum Beatae Mariae Virginis, die Votivmesse zu Maria“ pro incremento ordinis nostri“ und die Lauretanische Litanei nach der Komplet nicht zu vernachlässigen86. Wie in den benachbarten deutschen Gebieten sollen im Advent die Roratemessen eingeführt werden. Der Choralgesang sei in der Provinz „fere totaliter extinctum“87. Deshalb sollen sich die Novizen und Studenten, wie in den Konstitutionen vorgeschrieben88, täglich um 1 Uhr nachmittags im Gesang üben, ebenso mit den jungen Patres in den Meßrubriken. Der figurierte Gesang, also mit Instrumentalbegleitung, muß auf die höheren Festtage beschränkt werden. Von den geistlichen Übungen werden Schweigen, Meditation, Bußübungen, das Wochenkapitel erwähnt. Vom Fasten werde zu häufig dispensiert. An die Tischlesungen muß immer wieder erinnert werden89. Fasten und Geißelung werden den Patres angedroht, die häufig zu spät zum gemeinsamen Mittagsmahl kommen oder nach der Komplet noch das Refektorium aufsuchen.

Probleme mit den evangelischen Räten werden mehrfach angesprochen. Die Sicherung der Keuschheit durch die Klausur90wird bei jeder Visitation zum Thema. In jedem Kloster werden Köchinnen in der Küche beschäftigt. In den Zellen darf Frauen nicht mehr die Beichte abgenommen werden. In Langnau und Rohrhalden müsse unbedingt die strenge Klausur eingehalten werden. Da die Prioren auf die Notwendigkeit verweisen, hohe Gäste zu bewirten, ordnet der General einzelne Baumaßnahmen an. In den drei Residenzen, wo die Klausur nicht realisierbar scheint, dürfen Frauen die Zimmer der Patres nicht mehr betreten und keinesfalls im Kloster übernachten.

Zum Armutsideal kontrastiert die Kritik an individuellem Luxus, wie etwa des Besitzes silberner Tabaksdosen oder des Spielens um erhebliche Geldbeträge. Verwaltung und Kontrolle der für individuelle Anschaffungen bestimmten Geld- „deposita“ werden besprochen. Gehorsamsprobleme bereiten vor allem die Novizen und Studenten, zu deren besseren Aufsicht besonders bei Ausgängen die Oberen aufgerufen werden. Den geforderten regelmäßigen Diensten bei Tisch und bei den Kranken verweigern sich manche Mönche.

In Fragen der konkreten Lebensform wird mehrfach der Habit der schwäbischen Pauliner kritisiert, der aus „scharschett“ bestehe und nicht aus „pannum“ (Tuch, wohl Wolle) wie vorgeschrieben91. Daß der schwäbische Stoff billiger und bequemer zu tragen sei als „pannum“, wird nicht akzeptiert. Auch tragen die hiesigen Patres oft nicht den korrekten Habit, sondern legen die Kapuze ab und Krägen wie die Weltgeistlichen an. Die Bärte lassen sie sich nach dem Beispiel der österreichischen Provinz gegen den anhaltenden Widerspruch der Ordenleitung seit etwa 1700 rasieren.

In der Ordensverfassung ist ein Hauptstreitpunkt zwischen Provinz und Ordensleitung die hier aus Kostengründen übliche Personalunion des Provinzials mit einem Priorsamt, meist in Langnau. Da dann der Vizeprovinzial die Provinzvisitation im Kloster des Provinzials vorzunehmen hat, der seinerseits das Kloster des Vizeprovinzials visitiert, besteht die Gefahr gegenseitiger Rücksichtnahmen. 1721 wird die Trennung der Ämter mit eigener Dotierung und Rechnungsführung für den Provinzial durchgesetzt. Im Bereich der Temporalia wird zu besserer Rechnungsführung aufgefordert und werden Richtlinien für Geldanlage durch Kreditvergabe festgelegt. Dauerthema sind eine bessere Bücherführung und Dokumentation der Verpflichtungen. Anweisungen der Ordenszentrale und Beschlüsse der Generalkapitel werden nur eingetragen und weitergegeben, wenn sie der Provinzführung passen. Alle Häuser haben eine Chronik mit den Personallisten, ein Protokollbuch mit den Beschlüssen von General- und Provinzkapiteln, den Visitationsartikeln und den Pastoralbriefen des Generals, ein Urbar über die Immobilien, ein Verzeichnis der Mobilien und ein Rechnungsbuch zu führen. Das Noviziat soll die Profeßurkunden sorgfältig aufbewahren und die Martikelbücher in Ordnung halten. In den Sakristeien sollen Kalender mit den Todestagen der Ordensbrüder und Wohltäter und den Jahrtagsmessen hängen.

Schon um 1721 wendet sich die Provinz an den Kardinalprotektor und den Nuntius, um eine „relaxatio decretorum“ zu erreichen, wird aber barsch abgewiesen92. Einige Jahre später werden die Hauptdifferenzen zwischen Provinz und Ordensleitung auf eine überraschende Weise zu Gunsten der Provinz gelöst. 1732 führt der Generalauditor der Luzerner Nuntiatur eine Apostolische Visitation durch, also kraft päpstlicher Vollmacht. Gegen diese durch die Flucht eines Mönchs aus Rohrhalden zur Nuntiatur ausgelöste Visitation wehrt sich die Provinz vehement, unterstützt vom General, kann sie aber schließlich nicht verhindern. Obwohl dreimal so teuer wie die Visitation durch den Ordensgeneral, deren Kosten immer beklagt werden, gestaltet sich diese Visitation zu einem Erfolg aus der Sicht der Provinz. Der päpstliche Visitator genehmigt der Provinz in einem „apostolischen Indult“93fast alles, was ihr die Ordensleitung versagt, vor allem die Feier der Matutin um vier Uhr, Dispens vom Fasten auf Reisen, Ablegung der Kapuze auf Reisen, Habit aus dem gewohnten Stoff, die Kumulation der Ämter von Provinzial und Prior. Der beantragten Trennung vom Orden nach dem Beispiel der portugiesischen Pauliner und die Unterstellung der Provinz unter die Aufsicht des päpstlichen Nuntius in Luzern oder wenigstens einer Einschränkung der Generalvisitationen stimmt der apostolische Visitator aber nicht zu.

Ordensleitung und Generalkapitel reagieren, wie zu erwarten, sehr ungehalten auf diese Insubordination. Der Wahl des Provinzials 1733, der gleichzeitig wieder Prior von Langnau ist, verweigert der General die Bestätigung, aber die Protestbriefe an den Nuntius, unterstützt vom Kardinalprotektor, nützen nichts, das Indult muß anerkannt, 1736 der Provinzial wieder bestätigt werden (erst 1751 - 1763 werden die Ämter wieder getrennt). Die Provinz schottet sich gegen die Vorwürfe ab, sie trägt einfach die Beschlüsse der Generalkapitel von 1733 und 1736 nicht in ihre Bücher ein, weil „decreta illa militant contra hanc provinciam“94.

Die Artikel der drei Visitationen nach 1732 setzen etwas andere Akzente als die vorige Phase. Fragen der Ordensverfassung werden kaum mehr angesprochen. Liturgische Fragen treten in den Vordergrund, die Rubriken der Messe und Horen sollen besser beachtet werden, vollständige Präsenz bei Beginn des Chorgebets wird angemahnt. Die Bußübungen sollen wieder mehr praktiziert werden. Jede Wochen sollen im Konventkapitel moraltheologische Fragen besprochen werden. Alle Patres sollen ihre Betten selbst machen, nun nicht mehr wegen der Gefahren für die Keuschheit, sondern um sich in der Tugend der Demut zu üben. Bei der Provinzvisitation sollen auch die seelsorgerischen Fähigkeiten überprüft werden. Die Patres sollen 1739 nicht mehr in fremde Bruderschaften, sondern in die eigene Paulus-Bruderschaft eintreten, die nun genügend groß sei. Aber 1769 werden sie aufgefordert, in die St. Johann-Nepomuk-Bruderschaft sich einschreiben zu lassen, nachdem das Provinz-Definitorium den Heiligen 1753 zum Schutzpatron der Provinz gewählt hat, ein deutliches Zeichen für den Primat der Seelsorge im Selbstverständnis der Provinz. Auf Spannungen innerhalb der Provinz deuten verschiedene Regelungen, die sich u.a. gegen falsche Anschuldigungen bei Visitationen richten. An einem Problem hat sich seit der vorigen Periode offenbar nichts geändert: keine Visitation ohne Kritik an unzulänglicher Rechnungsführung.

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