Elmar L. Kuhn

Fundstücke - Theodor W. Adorno


Theodor W. Adorno

Januar 2015

Theodor W. Adorno

Adorno an seine Eltern
Los Angeles, nach dem 5. Oktober 1943

Schwäbische Eisenbahn.
Auf de schwäbische Eisebahne
Gibt’s gar viele Statione:
Stuggert, Ulm ond Biberach,
Mecklabeura, Durlesbach. …

Max [Horkheimer] hat das in der „California Staatszeitung“ gefunden …
A/E, S. 220 f.

Adorno an Max Horkheimer
Regensburg, 6. Januar 1950

Die Stadt ist unbeschreiblich, und daß es das noch gibt, ist doch auch, gegenüber jener großen historischen Tendenz, nicht gleichgültig, und wirklich auf jeden Fall.
A/H 4, S. 13

Die auferstandene Kultur
Mai 1950

Gerade je unbarmherziger der Weltgeist triumphiert, um so eher vermag das nach seinem Maße Zurückgebliebene nicht bloß fürs Verlorene, für die romantisch verklärte Vergangenheit einzustehen, sondern als Schlupfwinkel und Zufluchtsstätte eines zukünftigen Besseren sich zu erweisen. Aber man sollte doch mit dieser Hoffnung nicht allzu bequem sich machen. Sobald das Zurückgebliebene sich verstockt und als das Bessere selbst aufwirft, also gleichsam seine Unschuld verloren hat, nimmt es bereits als handlicher Herzenswärmer ein Element der Unwahrheit an. Dann kommt es gerade jener großen Tendenz zu Hilfe, von der ausgenommen zu sein es beansprucht.
GS 20, S. 456

Adorno an Max Horkheimer
Amorbach, 20. September 1950

Was doch diese europäische Kultur einmal war, fühlt man so ganz erst dort, wo sie noch nicht weiß, daß es sie nicht mehr gibt.
A/H 4, S. 37

Adorno an seine Mutter
Amorbach, 24. September 1950

… Amorbach … Es ist schließlich doch das einzige Stückchen Heimat, das mir blieb – äußerlich ganz unverändert und womöglich noch verschlafener als früher …
A/E, S. 535f.

Adorno an Siegfried Kracauer
Frankfurt, 17. Oktober 1950

… dem alten auch Dir vertrauten Amorbach, wo wir ein paar reichlich verspätete Ferientage verbrachten und wo so wenig sich verändert hat, daß ich zum ersten Mal wirklich etwas wie ein Gefühl von Heimat hatte, so weit es so etwas überhaupt noch gibt und geben darf.
S. 452

Adorno an Max Horkheimer
Vierzehnheiligen, 14. September 1952

Bamberg ist die erste Etappe, schöner als je, … und Vierzehnheiligen immer noch das Weltwunder galanter Religion.
A/H 4, S. 55

Adorno an Max Horkheimer
Santa Monica 24. Januar 1953

… die ganze Realität nur noch eine Reflexbewegung auf die Maßnahmen einiger Wirtschaftsspitzen darstellt. … es läßt sich wirklich nichts „aus der Geschichte lernen“, um der objektiven Kräfte willen, die sie bestimmen. Das kann nicht gut ausgehen, …
A/H 4, S. 123

Adorno an Peter Suhrkamp
29. März 1954

Jetzt bin ich noch etwa 14 Tage angebunden, dann gehen Gretel und ich an den Bodensee.
A/V, S. 131

Adorno an Max Horkheimer
Stuttgart, 9. Oktober 1955

… indem ich Ihnen diesen surrealistischen Gruß aus Ihrer Heimat sende, darf ich Ihnen berichten, daß meine schwäbischen Kenntnisse sich erweitern.
[Photopostkarte: Mercedes-Benz „300SL“.]
A/H 4, S. 340

Adorno an Gertrud Straulino
11. September 1956

… wie sehr eine bestimmte Art von Gebundenheit, von Dialekt … die Voraussetzung der Humanität ist.
A/H 4, S. 365

Adorno an Max Horkheimer
Frankfurt, 5. April 1957

… in allen Bewegungen, welche die Welt verändern möchten, ist immer etwas Altertümliches, Zurückgebliebenes, Anachronistisches. Das Maß dessen, was ersehnt wird, ist immer bis zu einem gewissen Grade Glück, das durch den Fortschritt der Geschichte verloren gegangen ist. Wer sich ganz auf der Höhe der Zeit befindet, ist immer auch ganz angepaßt, und will es darum nicht anders haben. Durch dies anachronistische Element ist aber zugleich auch der Versuch der Veränderung selber, eben weil er hinter den Verhältnissen eben so viel zurück wie ihnen voraus ist, immer auch aufs Schwerste gefährdet, und setzt sich bei denen, die es am wenigsten nötig haben, dem Vorwurf aus, reaktionär zu sein.
A/H 4, S. 431

Adorno an Max Horkheimer
Frankfurt, 15. März 1960

So etwa am 25. März werde ich wohl für zehn oder zwölf Tage wegfahren – allein. Nach Überlingen, ins Badhotel.
A/H 4, S. 621

Adorno an Paul Celan
Frankfurt, 21. März 1960

… haben Sie tausend Dank für die Jeune Parque … Wie tief mich die Übersetzung bewegt hat, als Sie sie vorlasen, wissen Sie – was mehr ist, ist nun Sache des Studiums. Ein paar friedliche Tage am Bodensee, die ich mir jetzt, ganz allein, nehme, werden dazu die Gelegenheit geben.
A/C, S. 177f.

Adorno an Max Horkheimer
Überlingen, Badhotel 29. März 1960

Mir geht es zusehends besser, bei leicht zwangshaftem Erholungsritual; es scheint, daß die sehr ernste Gesundheitskrise wirklich abklingt.
[Photopostkarte: Überlingen am Bodensee / Partie am Hänsele-Brunnen]
A/H 4, S. 623

Graeculus
Überlingen, 30. März 1960

Am 30. März, nachmittags gegen 5 Uhr, bin ich auf der Landstraße Ludwigshafen-Überlingen buchstäblich um Haaresbreite dem Tod entgangen. Ich musste die Straße überschreiten, sie war von links unübersichtlich, ich sprang gerade noch vor einem Auto zurück, das scharf bremste. Der Fahrer war menschenwürdig. Ungutes Gefühl den ganzen Tag. Ging dann ins Hotel zurück, beendete mit größter Intensität mein letztes Kapitel. Der Schreck erfolgte erst als ich fertig war. Die halbe Nacht schlaflos. – Benjamin schrieb, man dürfe kein größeres Werk als vollendet betrachten, über dem man nicht eine Nacht verwacht habe. Vielleicht ist das durch die Berührung mit dem Tod – in einem Augenblick, in dem ich im Gedenken an den Tod versunken war – abgegolten.
Während der 10 Tage in Überlingen fühle ich, wie sehr bei mir die Arbeit ein Rauschmittel ist, das mich über eine sonst fast unerträgliche Schwermut und Einsamkeit hinweghilft. Ich fürchte, das ist das Geheimnis meiner sogenannten Produktivität.
Graeculus, S. 13

Adorno an Siegfried Unseld
Überlingen, 31. März 1960

… in der Klausur hier, die 2. Fassung des „Mahler“, mit einer wilden Anstrengung fertig wurde. Die ist bei mir immer das Schwierigste und Verantwortlichste, produktive Kritik an mir selber. … Nächste Woche, etwa vom 7. an, bin ich zurück …
A/V, S. 339

Adorno an Siegfried Kracauer
Frankfurt, 7. April 1960

… obwohl es mir viel besser geht, und ich mich jetzt in ein paar Wochen am Bodensee wirklich gut erholt habe, neige ich noch immer etwas zu Schwindelanfällen …
A/K, S. 507

Graeculus
April 1960

Es ist ein nicht wieder gutzumachendes Unglück, daß in Deutschland alles, was irgend mit dem Glück der Nähe, Heimat zu tun hat, der Reaktion verfallen ist; der Philisterei und Vereinsmeierei erst, der Selbstgerechtigkeit des Beschränkten, dem Herzenswärmer, dem Nationalismus, schließlich dem Faschismus. An keinem alten Winkel kann man sich freuen ohne sich zu schämen und ohne Gefühl der Schuld. Dadurch geht etwas verloren was dem Fortschritt zu retten wäre – Bloch, in den Minima Moralia ist es angemeldet. So ergibt sich die blanke, totale, grauslige Alternative von Butzenscheibe und streamlining, die auf eine finstere Weise auch noch komplementär sind. … Einer befreiten Menschheit wäre die qualitative Vielfalt des Vergangenen, Überholten entsühnt.
Graeculus, S. 13f.

Ohne Leitbild
24. August 1960

Dem Vergangenen aber traut man Substantialität zu. Nur verkennt man, daß der Prozeß, der sie tilgte, irreversibel ist.
OL, S. 12

Adorno an Max Horkheimer
Graz, 14. Oktober 1960

Hier ist’s unbeschreiblich schön, nicht nur landschaftlich in dem strahlenden Herbst, sondern von der Stadt geht noch das Glücksversprechen aus wie von süddeutschen Städten in unserer Jugend!
A/H 4, S. 635

Adorno an Siegfried Kracauer
Frankfurt, 11. November 1960

Ich selbst habe, im Oktober, noch einmal für ein paar Wochen Nachferien in der Steiermark gemacht, in einem überaus merkwürdigen Milieu, und in einer Welt, die wirklich noch etwas von der Wärme und der Aura des Glücks hat, wie sie in meiner frühesten Jugend, vor fünfzig, vierzig Jahren, Süddeutschland  besaß.
A/K, S. 519

Notizbuch J
Rom, 14. April 1961

In solchen Städten trägt die Geschichte zentral bei zur Schönheit als deren Ausdruck. Was sie aber von außen her bewirkt ist nur ein Gleichnis dafür, daß Schönheit den Werken in ihrer eigenen Geschichte zuwächst. Ihre Schönheit ist eigentlich die Geschichte der Entfaltung ihrer Wahrheit.
ABM, S. 271

Adorno an Max Horkheimer
Überlingen, Badhotel 20. Mai 1961

Max, gut eingetroffen und installiert, fühlen wir uns trotz problematischen Wetters sehr behaglich, waren sogar 3 Stunden an der Luft.
[Photopostkarte: Überlingen / Bodensee, Badhotel]
A/H 4, S. 650

Adorno an Max Horkheimer
Bregenz, Hotel Central 2. April 1962

Weil mein Weißes Kreuz noch geschlossen ist, bin ich hierher gezogen, recht österreichisch gemütlich. Bin ganz allein, ohne Arbeit, fast ohne zu lesen, in einem Zustand der angenehmsten Langeweile, und das Wetter meint es gut, wenn auch noch nicht mit vollem Erfolg. Die Seelandschaft ist recht merkwürdig, man wäre nicht erstaunt, wenn Dinosaurier aus dem Röhricht kröchen.
[Ansichtskarte: Bregenz, Vorkloster]
A/H 4, S. 680

Philosophische Terminologie 1
SS 1962

… Verhältnisse als substantielle und verbindlich dargestellt werden, die zwar hie und da noch überleben mögen in der Welt, in der wir selbst existieren, die aber gleichsam nur von Gnaden der Duldung des Industrialisierungsprozesses so leben, … Das ist eine innere Vergänglichkeit, Vergangenheit; der realen Substanz des gegenwärtigen Lebens, nämlich der realen Selbsterhaltung der Menschheit, und den Prozessen, die uns am Leben erhalten, sind diese Formen gar nicht mehr angemessen. In Wirklichkeit ist das, was hier mit diesem ungeheuren Anspruch auf Substantialität auftritt, in einem höheren Sinn Sommerfrische – nicht nur für die Städter, sondern sogar für die Menschen, die so leben und deren eigene Lebensform, wenn die Produktivkräfte nicht gefesselt wären, / durch andere Lebensformen ohne weiteres ersetzt werden können. Diese Disproportion verschafft objektiv dem Lob der einfachen Verhältnisse ein Moment der Verlogenheit. … Der geschichtliche Prozeß, durch den diese Verhältnisse objektiv überholt sind, bedeutet eben auch zugleich, daß der Rekurs auf sie als auf das Wahre und als das Substantielle selbst das Moment der Unwahrheit hat. / … ich wäre der letzte zu leugnen, daß in dem gegenwärtigen Stadium der Industrialisierung gewissen kleinstädtische oder bäuerliche Verhältnisse gerade deshalb, weil sie zum Tode verurteilt sind, eine Art von versöhnlichem Glanz bekommen und daß Sehnsucht an sie sich heftet.
… man muß zunächst einmal auch hier, wie ich es immer zu tun pflege in solchen Betrachtungen, versuchen, das Bedürfnis zu bestimmen oder die Wahrheit zu bestimmen, die darin stecken. Es wäre genauso armselig und engherzig, wenn man nun die Freude an Wertheim oder Amorbach damit verwehren wollten, daß Amorbach gegenüber Chicago und Manhattan ein Anachronismus ist, wie es auf der anderen Seite verlogen wäre, wenn man der Welt, in der wir leben, Amorbach und Wertheim als Ideal vorhalten wollte. Aber, und ich glaube, damit kommt man nämlich zu dem Tiefsten, das eigentlich Verlogene dieser Ursprungsfrage und dieser Ursprungsrede liegt darin, daß es bei ihr in Wirklichkeit gar nicht mehr darum geht, … daß der industriellen Zivilisation das Wunschbild dieses Lebens entgegengehalten wird. Es wird in diesem Zusammenhang gar nicht mehr ernsthaft an die Realisierbarkeit dieses sogenannten Ideales geglaubt, sondern je mehr gerade die Macht der Naturbeherrschung und der innergesellschaftlichen Herrschaftsformen, in denen die Naturbeherrschung sich vollendet, fortschreitet, um so mehr wird dieser Fortschritt dann gewissermaßen kontrapunktiert von einem solchen Kultus des einfachen, ursprünglichen, schlichten Lebens. …/ Es handelt sich hier gar nicht um ein Ideal, sondern wirklich nur noch um Herzenswärmer, die nun aber deshalb hier besonders fatal sind, weil sie nicht einfach im Bereich des Kulturkonsums minderer Grade bleiben, sondern sich womöglich selber noch geben, als ob sie dem Betrieb der Kulturindustrie entgegengesetzt wären und ihr das Andere entgegenstellen würden. In Wahrheit sind sie aber ihrer Funktion nach ein Stück Kulturindustrie, … Ich möchte aber, um auch nicht ungerecht zu werden, noch einmal wiederholen, daß in dem Protest gegen die technische Zivilisation, der in solchen Dingen sich ausspricht, natürlich immer auch ein Moment der Wahrheit ist, und ich wäre der letzte, die Sehnsucht, … zu schmähen. Nur, die Falschmünzerei beginnt in der Umwertung dieser Sehnsucht so, daß sie einmal nach rückwärts in ein Unerreichbares und in ein Unwiederbringliches gestaut wird und daß zum andern ein Idealbild dabei entworfen wird, das eigentlich gar nicht gemeint ist, weil es in Wirklichkeit lediglich um eine Art / von Zuschmücken der unaufhaltsam fortschreitenden Realität gibt. S. 155-159

Der Trug des Ursprungs im Ideal liegt darin, daß ein seinem eigenen Sinn nach Unwiederherstellbares, ja etwas, das sein ganzes Pathos und seine Gewalt nur seiner eigenen Unwiederherstellbarkeit verdankt, nun so behandelt wird, als ob es aus Subjektivität, aus Freiheit, aus Sehnsucht, aus der Willkür des Denkenden heraus unmittelbar wieder zu setzen wäre. S. 169
PT 1

Auf die Frage: Warum sind Sie zurückgekehrt?
[20. Dezember 1962]

Ich wollte einfach dorthin zurück, wo ich meine Kindheit hatte, am Ende aus dem Gefühl, daß, was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen.
GS 20, 1, S. 395

Adorno an Lotte Tobisch
Frankfurt, 27. Juni 1963

Ich habe einen nahen Freund von mir und dessen Frau, der in Kressbronn am Bodensee wohnt, darauf aufmerksam gemacht, daß Du in Bregenz sein wirst, und er wird sich ganz sicher bei Dir melden. Es ist Professor Becker, der Sohn des früheren preußischen Kultusministers, ein sehr amüsanter und anregender Mann und, wie man so sagt, eine Schlüsselfigur des gegenwärtigen kulturellen Deutschland; das soll aber nicht gegen ihn gehalten werden. Laß mich also wissen, ob es Dir genehm ist, wenn die sich einmal bei Dir in Bregenz melden, …
A/T, S. 23

Adorno an Lotte Tobisch
Frankfurt, 19. Juli 1963

Ich stelle mir vor, daß Du in Bregenz Triumphe feierst. Ob Du wohl manchmal auf der Mole spazieren gehst, wie ich es soviel getan habe, oder den langen, einsamen Weg am See entlang, nach der Schweizer Grenze hin? Oder ob Du oben auf dem Pfänder warst, wo ich beim Abstieg im Eis hinfiel? Nun, ich denke, in weniger als vierzehn Tagen wirst Du mir all das erzählen – und vieles andere auch.
A/T, S. 27

Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit
10. Dezember 1964

… die große gesellschaftliche Tendenz gewissermaßen diesem Widerstrebenden und Nichtaufgehenden das Mark ausgesaugt hat und es als etwas Substanzloses und Belangloses, eben als ein bloß Zufälliges zurückläßt.
LGF, S. 142

Jargon der Eigentlichkeit
1964

Aber Geborgenheit als Existential wird aus dem Ersehnten und Versagten zu einem jetzt und hier Gegenwärtigen, unabhängig von dem, was sie verhindert. … die Reminiszenz ans Eingehegte und sicher Umgrenzte ist gekettet an jenes Moment bornierter Partikularität, das aus sich heraus das Unheil erneuert, vor dem keiner geborgen ist. Heimat wird erst sein, wenn sie solcher Partikularität sich entäußert, sich aufgehoben hat, als universale. Richtet das Gefühl von Geborgenheit sich häuslich bei sich selber ein, so unterschiebt es die Sommerfrische fürs Leben.
JE, S. 25

Amorbach
5./6. November 1966

Der Unterschied zwischen Amorbach und Paris ist geringer als der zwischen Paris und New York. S. 22
Dennoch läßt einzig an einem bestimmten Ort die Erfahrung des Glücks sich machen, die des Unaustauschbaren, selbst wenn nachträglich sich erweist, daß es nicht einzig war. Zu Unrecht und zu Recht ist mir Amorbach das Urbild aller Städtchen geblieben, die anderen nichts als seine Imitation. S. 23
OL, S. 22f.

Der mißbrauchte Barock
22. Dezember 1966

Unbefangene Augen brauchen nur gesehen zu haben, wieviel an minderwertigen Barockbauten es auch in Süddeutschland, Österreich, Italien gibt, … um darauf aufmerksam zu werden, wie wenig mit Stil allein getan ist. S. 137

Gegenden ohne Fabriken, zumal solche eines einigermaßen unerschütterten Katholizismus, gewinnen durch ihren Seltenheitswert Monopolcharakter und werden selber Luxuswaren, Komplement zum Industrialismus, in dessen Mitte sie gedeihen. Ihr Barock ist zur Affiche totaler Kultur für den Fremdenverkehr geworden, und das beschädigt noch seine eigene Schönheit. S. 141
OL

Über Tradition
1966

Real verlorene Tradition ist nicht ästhetisch zu surrogieren. S. 31
Auch genuin traditionale Momente, bedeutende Kunstwerke der Vergangenheit arten in dem Augenblick, in dem das Bewußtsein sie als Reliquien anbetet, in Bestandstücke einer Ideologie aus, die am Vergangenen sich labt, damit am Gegenwärtigen nichts sich ändere, … S. 32
Während jedoch subjektiv Tradition zerrüttet ist oder ideologisch verdorben, hat objektiv die Geschichte weiter Macht über alles, was ist und worin sie einsickerte. S. 33
Wer leidet unter der Allherrschaft des bloß Seienden und Sehnsucht hat nach dem, was noch nie war, der mag mehr Wahlverwandtschaft zu einem süddeutschen Marktplatz spüren als zu einem Staudamm, obwohl er weiß, wie sehr das Fachwerk zur Konservierung von Muff herhält, dem Komplement technifizierten Unheils. S. 34
An nichts Traditionales ist besser anzuknüpfen als daran, den Zug der in Deutschland verratenen und geschmähten Aufklärung, eine unterirdische Tradition des Antitraditionellen. S. 35f.
Das kritische Verhältnis zur Tradition als Medium ihrer Bewahrung … S. 38
OL

Negative Dialektik
1966

Was metaphysische Erfahrung sei, wird … am ehesten wie Proust sich vergegenwärtigen, an dem Glück etwa, das Namen von Dörfern verheißen wie Otterbach, Watterbach, Reuenthal, Monbrunn. Man glaubt, wenn man hingeht, so wäre man in dem Erfüllten, als es wäre. Ist man wirklich dort, so weicht das Versprochene zurück wie der Regenbogen. Dennoch ist man nicht enttäuscht; eher fühlt man, nun wäre man zu nah, und darum sähe man es nicht. … damit dies Allgemeine, das Authentische an Prousts Darstellung, sich bildet, muß man hingerissen sein an dem einen Ort, ohne aufs Allgemeine zu schielen. Dem Kind ist selbstverständlich, daß, was es an seinem Lieblingsstädtchen entzückt, nur dort, ganz allein und nirgends sonst zu finden sei; es irrt, aber sein Irrtum stiftet das Modell der Erfahrung, eines Begriffs, welcher endlich der der Sache selbst wäre, nicht das Armselige von den Sachen Abgezogene. … Glück, das einzige an metaphysischer Erfahrung, was mehr ist denn ohnmächtiges Verlangen, gewährt das Innere der Gegenstände als diesen zugleich Entrücktes. Wer indessen an derlei Erfahrung naiv sich erlabt, als hielte er in Händen, was sie suggeriert, erliegt Bedingungen der empirischen Welt, über die er hinaus will, und die ihm doch die Möglichkeit dazu allein beistellen.
ND, S. 366 f.

Adorno an Elisabeth Lenk
Frankfurt, nach dem 16. April 1967

Ein Stück wie Amorbach ist ja sehr gewagt, weil es scheinbar so wenig wagt, so nah am Idyllischen ist, aber es hat mich gereizt, in diese Sphäre mich zu begeben, ohne mich von ihr anstecken zu lassen.
A/L, S. 107f.

Ästhetische Theorie
1970

Einer befreiten Menschheit sollte das Erbe ihrer Vorzeit, entsühnt, zufallen. Was einmal in einem Kunstwerk wahr gewesen ist und durch den Gang der Geschichte dementiert ward, vermag erst dann wieder sich zu öffnen, wenn die Bedingungen verändert sind, um derentwillen jene Wahrheit kassiert werden mußte: so tief sind ästhetisch Wahrheitsgehalt und Geschichte ineinander. … Die Tradition ist nicht abstrakt zu negieren, sondern  unnaiv nach dem gegenwärtigen Stand zu kritisieren: so konstituiert das Gegenwärtige das Vergangene. Nichts ist unbesehen, nur weil es vorhanden ist und einst etwas galt, zu übernehmen, nichts aber auch erledigt, weil es verging: Zeit allein ist kein Kriterium. Ein unabsehbarer Vorrat an Vergangenem erweist immanent sich als unzulänglich, ohne daß die betroffenen Gebilde es an Ort und Stelle und fürs Bewußtsein ihrer eigenen Periode gewesen wären. S. 67

Den Kulturlandschaften hat die Geschichte als ihr Ausdruck, historische Kontinuität als Form sich eingeprägt und integriert sie dynamisch, wie es sonst bei Kunstwerken der Fall zu sein pflegt. … Mit dem Verfall der Romantik ist das Zwischenreich Kulturlandschaft verkommen bis hinab zum Reklameartikel für Orgeltagungen und neue Geborgenheit; der vorwaltende Urbanismus saugt als ideologisches Komplement auf, was dem städtischen Wesen willfahrt und doch die Stigmata der Marktgesellschaft nicht auf der Stirn trägt. Ist aber deswegen der Freude an jedem alten Mäuerchen, an jeder mittelalterlichen Häuserfamilie schlechtes Gewissen beigemischt, so überdauert sie gleichwohl die Einsicht, die sich verdächtig macht. Solange der utilitaristisch verkrüppelte Fortschritt der Oberfläche der Erde Gewalt antut, läßt die Wahrnehmung trotz aller Beweise des Gegenteils nicht vollends sich ausreden, was diesseits des Trends liegt und vor ihm, sei in seiner Zurückgebliebenheit humaner und besser. Rationalisierung ist noch nicht rational, die Universalität der Vermittlung nicht umgeschlagen in lebendiges Leben; das verleiht den Spuren alter, wie immer auch fragwürdiger und überholter Unmittelbarkeit ein Moment korrektiven Rechtes. Die Sehnsucht, die an ihnen sich stillt, von ihnen betrogen wird und durch falsche Erfüllung selber zu einem Bösen, legitimiert sich doch an der Versagung, die vom Bestehenden permanent verübt wird. … Ist heute das ästhetische Verhältnis zu jeglicher Vergangenheit vergiftet durch die reaktionäre Tendenz, mit der jenes Verhältnis paktiert, so taugt ein punktuelles ästhetisches Bewußtsein nicht mehr, das die Dimension des Vergangenen als Abfall wegfegt. Ohne geschichtliches Eingedenken wäre kein Schönes. S. 101 f.
ÄT

Abkürzungen:

A/C
Theodor W. Adorno / Paul Celan: Briefwechsel 1960-1968. Hg. Joachim Seng. In: Rolf Tiedemann (Hg.): Theodor W. Adorno Blätter VIII. München: text + kritik, 200, S. 177-202.

A/E
Theodor W. Adorno: Briefe an die Eltern 1939-1951. Hg. Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt: Suhrkamp, 2003 ((Theodor W. Adorno Briefe und Briefwechsel 5)

A/H 4
Theodor W.  Adorno / Max Horkheimer: Briefwechsel 1927-1969. Band IV: 1950-1969. Hg. Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt: Suhrkamp, 2006 (Theodor W. Adorno Briefe und Briefwechsel 4)

A/K
Theodor W. Adorno / Siegfried Kracauer: Briefwechsel 1923-1966. Hg. Wolfgang Schopf. Frankfurt: Suhrkamp, 2008 (Theodor W. Adorno Briefe und Briefwechsel 7).

A/L
Theodor W. Adorno / Elisabeth Lenk: Briefwechsel 1962-1969. Hg. Elisabeth Lenk. München: text + kritik, 2001 (Dialektische Studien)

A/T
Theodor W. Adorno / Lotte Tobisch: Der private Briefwechsel. Hg. Bernhard Kraller und Heinz Steinert. Graz-Wien: Droschl, 2003.

A/V
Theodor W. Adorno / Peter Suhrkamp / Siegfried Unseld: Adorno und seine Verleger. Der Briefwechsel mit Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld. „So müßte ich ein Engel und kein Autor sein“. Hg. Wolfgang Schopf. Frankfurt: Suhrkamp, 2003

ABM
Theodor W. Adorno Archiv (Hg.): Adorno. Eine Bildmonographie. Frankfurt: Suhrkamp, 2003.

ÄT
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. (1970). 3. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp, 1977 (stw 2).

Graeculus
Theodor W. Adorno: Graeculus (II). Notizen zu Philosophie und Gesellschaft 1943-1969. In: Rolf Tiedemann (Hg.): Frankfurter Adorno Blätter VIII. München: text + kritik, 2003, S. 9-41.

GS 20
Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hg. Rolf Tiedemann. Band 20: Vermischte Schriften I-II. Frankfurt: Suhrkamp, 1986.

JE
Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt: Suhrkamp, 1964 (es 91).

LGF
Theodor W. Adorno: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/65). Hg. Rolf Tiedemann. Frankfurt: Suhrkamp, 2001 (Theodor W. Adorno  Nachgelassene Schriften IV, 13).

ND
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. (1966). 2. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp, 1980 (stw 113).

OL
Theodor W. Adorno: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt: Suhrkamp, 1967 (es 201).

PT
Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie. Einleitung. Hg. Rudolf zur Lippe. Band 1. 2. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp, 1976 (stw 23).

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