Elmar L. Kuhn

Fundstücke - Arnold Stadler


Foto Desitin

März 2021

Arnold Stadler
Nachrichten aus Schwäbisch Mesopotamien

oder

Die Heimat wird immer weniger.

Kein Vortrag,

eher ein Requiem auf das in der Globalisierunskelter verschwindende Oberschwaben.

Das Land, das ich meine, heißt Schwäbisch Mesopotamien.
Ich habe es so getauft, weil es lange genug keinen Namen mehr hatte, und weil es auch zwischen zwei Flüssen liegt, die allerdings aneinander vorbeifließen, in unterschiedliche Meere, als wollten sie einander fliehen, die Donau und der vorübergehend zum Bodensee schön ausufernde Rhein. Beide Ströme, die auch ihre Geschichte des Fließens haben, wurden von Hölderlin besungen, und wie! Er wusste noch, wie das hieß, und was das war, als er hier 1801, noch vor der großen Zeitenwende, noch im zu Ende sich neigenden Alten Reich (das klingt schon so fern, als wäre es wie im Alten Reich Ägyptens) durchkam, zu Fuß: Glückselig Suevien. So in seiner Hymne: >Die Wanderung<.

>Glückselig Suevien!<. Also nicht >glückseliges Württemberg< oder >felix Austria< oder gar >glückseliges Bayern<, das wäre Politik gewesen, die, sowenig wie Bayern oder Württemberg, in Hölderlins Hymnen überhaupt nicht vorkommt. (Schon gar nicht München. Wohingegen es zwei wunderbare Stuttgart-Gedichte gibt von ihm, dem vielleicht allergrößten Dichter, der mir – fern von der Number-One-Mentalität - bisher in der Sprache begegnet ist: Schon deswegen muß man Stuttgart für immer lieb haben, trotz allem.)

In der Hymne >Heimkunft. An die Verwandten< besingt Hölderlin ein >Glückseliges Lindau! Eine der gastlichen Pforten des Landes ist dies<. Bald sollte sie, nach über tausend Jahren Schwaben, bayerisch sein, mit dem entsprechenden Löwen im Hafen als Demonstrationszeichen einer imperialen Mittelmacht. Hölderlin kam von der Schweiz her noch nach Schwaben, als er Lindau erreichte. Das war im Frühjahr 1801, es muß ein schöner Tag gewesen sein. Nach nur drei Monaten als Hauslehrer in Hauptwil – auf dem Hinweg war er an die Donau zwischen Sigmaringen und Beuron gelangt, die nun auch aufgehoben ist in einem Hölderlingedicht. Im Thurgau hatte er seine Stelle schon wieder verloren und kehrte über den See dorthin zurück, was Hölderlin als seine >Heimat< bezeichnet. Soweit das von Hölderlin evozierte Suevien und seine Menschen am Beginn des 19. Jahrhunderts. Nun aber ans Ende des 20.! Allerdings in jenes von Hölderlin besungene alte Gelände, wo die Nachgeborenen leben, immer noch als Menschen, immer noch wissend, daß sie leben und sterben, heute.

Was Sie von mir hören, ist ja kein Vortrag, und auch nicht als solcher gedacht. Schon gar kein wissenschaftlicher Beitrag: Es sind ganz persönliche, mit der Narrenfreiheit des Schriftstellers, formulierte Marginalien und Assoziationen. Um ein Epizentrum meiner ersten Welt kreisende Vergegenwärtigungen, wie es sich für einen Schriftsteller gehört, dessen Vorrecht es ist, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Also werden Sie von mir hier und heute keine Thesen, keine diplomatischen Stellungnahmen oder Elemente zu einem abwägenden Gutachten geliefert bekommen. Es sind Nachrichten aus Schwäbisch Mesopotamien von einem Betroffenen, aus jener Gegend, die sich zwischen Donau und Bodensee, der auch nur eine Ausuferung des Rheins ist, und sich zwischen Schwarzwald und Allgäu, bis hin zum Lech (also wäre es auch Dreiflüsseland zu nennen) erstreckt, und das in oder seit Alten Zeiten ein Schwäbisches - auch Kulturelles Kerngebiet ist. Das sage ich auch als Sprachmensch und Literaturwissenschafler und Liebhaber, der Oberschwäbischen Kunst mit seinen auch im Weltkunstvergleich unerhörten Gipfeln von Ottobeuren, Steinhausen, Weingarten, Schussenried und Zwiefalten und vielen mehr.

Provinz gibt es nicht, es gibt nur Welt.

Gerade für einen Schriftsteller kann es gar keine Provinz geben, und jeder Satz eines Schriftstellers (von denen, die ich meine) wird mit jedem Satz die Welt vergegenwärtigen.

Einen Namen für das, wo wir lebten und was wir lebten, hatten wir nicht. Ich wusste nur, daß wir lebten. Und daß mein Dorf, das Rast heißt, in Baden lag, an der Stelle, wo der Bodensee und die Donau an der engsten Stelle zusammenkommen. Und daß dieses Dorf nun seit der Verwaltungsreform zu den >New Territories< im neuen Baden-Württemberg gehört, im erhaltenswerten Landkreis Sigmaringen, gewiß einem der schönsten des Landes. Nicht nur der Höchsten, wie einst auch Achberg und Sigmarszell, waren Orte dieses Landes, das früher Hohenzollern hieß. Von dem neuen Landkreis Sigmaringen hat man immer noch fast von jedem Dorf aus eine herrliche Aussicht, man sieht die nahe liegenden Alpen, den Hegau, den Heuberg und den Schwarzwald. Von mancher Stelle aus den Bodensee.

Aber bald wird dieses Land (das noch nie gefragt wurde) von abscheulichen Windmonstern verstellt sein, wenn es so kommt, wie gewünscht – und auch schon geplant - sind von den Herrschenden bis zu neunzig Windkraftmonster, zweihundert Meter hoch über sämtlichen Bäumen und Kirchtürmen.

Wie sich da die Klosterstadt nach dem in St. Gallen aufbewahrten Reichenauer Plan von 800 ausmachen wird? Vor der Windmonster-Skyline? Es ist auch dies alles ein Geschäft der sogenannten Investoren, des Geldes also, unter dem Vorwand der Energiewende, für mich auch im Zusammenhang der fortschreitenden Globalisierung zu verstehen, deren eine Begleiterscheinung die fortschreitende Verwahrlosung und Degradierung vom Menschen zum Verbraucher in einem vordem gemeinsamen Lebensraum ist.

Wenn die verfügten totalitären Träume (in Verbindung mit der schönnamigen Energiewende) der Regierungen von Berlin und Stuttgart (als wäre es Peking oder Pnönjang) wahr werden, werden wir dieses unerwünschte Geschenk bekommen, auf einen Schlag eine Skyline, die ihresgleichen sucht. Einmal aufgestellt (von Bauen kann hier keine Rede sein), würden diese Monster das Gesicht meiner Welt auf immer verändern (zerstören), wie das sonst nur eine Atombombe, ein Flächenbombardement oder US-amerikanisches Gift wie einst in Vietnam vermocht hätte.

Mittendurch wird aber weiterhin die Donau fließen, auch an jener Stelle, wie sie von Hölderlin besungen wurde, als durch diese Gegend kam, von der Alb herunter, zu Fuß, eine Erscheinung, die er so merkwürdig fand, daß er sie in einer Hymne verewigte. (Das würde er wohl nicht mehr tun, wie ich, weder Investor noch Profiteur, vermuten darf.)

Meine Kindheit und Jugend war noch eine ländliche und eine badische, die in eine der größten Zäsuren in der bisherigen Geschichte überhaupt fiel. Es war ein Leben unter freiem Himmel, das in meiner Erinnerung fortbesteht. Die Hauptverkehrszeichen zeigten Tiere: Rehe und Kühe. Schon von Anfang an war dieses Leben ein Fahren über die Grenzen, zu Menschen diesseits und jenseits, die fast dieselbe Sprache hatten und haben. Doch auch sie, die Muttersprache, wird immer weniger. Für mich ist dies das Hauptopfer an die Globalisierung. Nur sprachschwache, unempfindliche, sprachresistente Menschen merkten das nicht, die anderen schon.

Die Fahrt über die Grenze nach Wald und Walbertsweiler, das waren die hohenzollerischen Nachbargemeinden, endete damals noch abrupt im Wald, im Ungeteerten, das eher nach Weg als nach Straße aussah. Es waren Verkehrsverbindungen, die von den Zentralen in Sigmaringen und Karlsruhe für so unbedeutend eingestuft wurden, daß sie noch nicht einmal durchgängig geteert waren. Vielleicht hatten sie kein Geld oder kein Interesse. Das Teeren, wie auch das Kunstdüngern im großen Stil, das der Vielfalt des Wachsens und Blühens ein Ende machte, kamen erst im Verlauf meiner ersten 15 Lebensjahre. Da erst war diese Seite – auch das schon ein früheres Phänomen der fortschreitenden Globalisierung - des Fortschritts abgeschlossen. Was früher Fortschritt hieß, nennt man heute wohl Globalisierung. So versteckt man den alten Glauben oder Unglauben oder Größenwahnsinn des Menschen. (Von Imperialismus spricht heute ja auch niemand mehr. Das heißt heute Geopolitik in Zeiten von Globalisierung und worldwide web.)

Ich wusste noch nicht einmal, was wir für einen Namen hatten. Und doch war es ein Leben in Fülle, das Jahr orientiert an den Jahreszeiten. Es fehlte nichts. Manchmal sehe ich noch in den Nischensendern wie Phoenix Menschen in einem der bedrohten Urwälder dieser Welt, und höre sie sagen, daß sie glücklich sind, und kein anderes Leben wollen. Da fällt mir das Leben unter freiem Himmel ein, so, wie es war, vor dem Eintritt in die Geschichte, die man ja - nach Adorno - auch als eine Geschichte von der Steinschleuder bis zur Wasserstoffbombe schreiben und erzählen kann.

Der Name Fleckviehgau, eine quasi poetische Vergegenwärtigung des Landes, wie ich es hier meine, geht allerdings doch nicht, wie ich geschrieben las, auf Heidegger zurück, sondern nur auf mich. Auf Suche nach einem Wort dafür, für meine erste Welt, die keinen Namen hatte, war ich auf >Fleckviehgau< gekommen. Zumal Meßkirch, mein Geburtsort, einst auch ein berühmter Ort der Viehzucht war, sogar mit einem Viehzuchtamt ausstaffiert, das den Zeiten und sogenannten Reformen anheimfiel.

Heute kennt man Meßkirch noch wegen Martin Heidegger. Der geistigen Welt – und das kann ich nun ohne die geringste Übertreibung sagen - hat Meßkirch einen Philosophen von welthistorischem Rang geliefert, der sein Denken vor allem an Hölderlin entwickelte. (Man muß sich einmal vergegenwärtigen, was das bedeutet: Können wir uns vorstellen, daß etwa Habermas seine Soziologie nach dem Ende der Philosophie im Zwiegespräch von Dichten und Denken erarbeitet hätte?)

Die Liebhaber der sogenannten volkstümlichen Musik lieben den Ort wegen der Geschwister Hoffmann, die eine Blond, die eine Braun, und als solche die ersten Ehrenbürgerinnen, in diesem Amt gefolgt auf den Verfasser von >Sein und Zeit<.

Vielleicht kam Hölderlin auch durch Meßkirch, wie Mozart, Montaigne und Marie Antoinette, aber das wissen wir nicht. Unter den vielen Landkindern, die auf manchmal abenteuerlichen Routen nach Meßkirch in die sogenannten weiterführenden (wohin eigentlich?) Schulen gekarrt wurden, war auch ich. Jene Zeit in der >Stadt<, wie wir für Meßkirch sagten, gehört wohl eher nicht zu den schöneren Erinnerungen, die Landkinder an ihr zweites Lebensjahrzehnt haben können.

Soviel von den kleinen Dingen weiß ich aber: Meßkirch ist die erste Stadt meines Lebens, von da das Urbild. Aber nicht weil ich da (im längst abgerissenen Krankenhaus, einem schönen stabilen Bau aus dem badischen Jahrhundert Meßkirchs, der auch nicht mehr in die Zeit passte, wie die Mitläufermenschen des Zeitgeists wohl glaubten) geboren wurde, sondern weil ich da sehen lernte, weil sich mir an Meßkirch fast ein Jahrzehnt die Vorstellung von >Stadt< bildete. Freilich auch schon zuvor über die sonntäglichen Fahrten zu den Großeltern, die am Stadtrand von Meßkirch lebten, da kamen wir jeden Sonntag am Krankenhaus vorbei. Neun lange Jahre fuhr ich dann mit dem Bus in die Schule nach Meßkirch, morgens bald nach sechs, aber lieber noch zurück, über die Dörfer. Um halb drei war ich wieder in Rast.

Unter den Fehlern, die Napoleon beging – [Anmerkung: einer der größten Globalisierungs-Versucher und Welteroberungstyrannen der Geschichte, der nach wie vor in großem Ansehen steht--], zählt Franz Kafka in seinem >Tagebuch von 1915< unter >Fünftens< auf: >Er [scil.Napoleon] versetzte alle Chorps mit den unzuverlässigen Hilfsvölkern.< In Klammer nennt er nun: >(Badenser [so steht es bei Kafka], Mecklenburger, Hessen, Baiern, Württemberger, Sachsen, Schweizer, Kroaten, Polen, Italiener) und schädigte dadurch den Zusammenhalt. Edler Wein wird verdorben durch die Beimengung trüben Wassers.< Soweit der weltberühmte Franz Kafka, der aus Prag kam und sein gesamtes literarisches Werk auf Deutsch schrieb, kurz bevor die Geschichte der Deutschen und Juden und ihrer gemeinsamen Sprache – Deutsch - zu Ende ging. Aber das ist eine andere Geschichte. Kafka starb 1926. Was Kafka hier zur großen Weltpolitik sagt, kurz: seine Ansichten und Einschätzungen diesbezüglich teile ich gar nicht.

Leider, so muß ich es sagen, (und stelle mich in dieser Einschätzung gegen Kafka in seiner Einschätzung von Napoleon, der keine >Fehler< beging, sondern eher Verbrechen von welthistorischer Dimension), wurde die Gegend zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die von Napoleon ermöglichte Eroberung durch die kleinen, relativ überschaubaren Koalitions-Sieger-Länder Baden, Württemberg, Hohenzollern und Bayern zerrissen, und erst durch die Gründung von Baden-Württemberg teilweise wiedervereinigt. Die männlichen Einwohner der vormals österreichischen Territorien wurden zum Teil als Soldaten versklavt und starben wegen Napoleon in Russland und Ägypten. Einige kehrten von da zurück (Siehe mein erstes Buch Ich war einmal, Kapitel: Einer meiner Vorfahren war mit Napoleon in Ägypten, Salzburg und Wien 1989, Seiten 44 ff.)

Der große Eroberer aber kehrte aus allem zurück, als wäre es nichts gewesen. Und ich finde es empörend, daß Napoleon bis zuletzt herrschte, wenn auch nur über St. Helena, und bis zum heutigen Tag mit seinen Gewalttaten verewigt ist auf manchem Triumphbogen. Triumphbögen mögen heute erst recht ein unpassendes historisches Relikt sein; meines Erachtens jedoch waren sie immer schon etwas, an dem nur Machtmenschen und ihre entsprechenden Nachgeborenen und Verehrer Gefallen finden können.

Zu meinen Lieblingsbüchern gehört >Masse und Macht< von Elias Canetti. (Auch wegen Canettis Verachtung jener Historiker, die nur etwas bewundern, weil etwas geschehen ist, weil es ein Ausdruck von Macht und Gewalt ist.)

Seit Napoleon war mein Schwäbisches Mesopotamien, entschuldigen Sie das Wort - irgendwie - geteilt. Und ist es auch weiterhin. Das können Sie auch daran erkennen, wenn Sie im schönen Ulm auf der Donaubrücke stehen und nach Neu-Ulm hinübersehen: Kein schöner Anblick. Von der anderen Seite her ist es genau umgekehrt: als sehnte sich Neu-Ulm nach dem Ulmer Münster.

Die seit der Trennung dazugekommenen und dazugehörenden Menschen mögen oftmals anders denken oder empfinden. Und sprechen. Denn württembergisch oder bayerisch geworden seit gerade einmal 200 Jahren, genügte diese überschaubare Zeit aber doch - über Schule und den ganzen Beamten-Administrationsapparat - den eingeborenen Schwaben eine neue Identität einzuimpfen, eine württembergische oder eine bayerische und was weiß ich. Tatsächlich haben die neuen Autoritäten es geschafft, sagen wir heute, daß viele Einheimische und Eingeborene sich heute nicht mehr als Freie Reichsstädter und Schwaben empfinden, sondern als Württemberger oder gar Bayern. Und mancher geschichtsvergessener Lindauer oder Neu-Ulmer sich vielleicht einbildet, Bayer zu sein.

Oberschwaben, mehr als tausend Jahre lang ein Kulturraum, war nun und für lange Zeit zu einem Grenzraum geworden. Aber seine Menschen blieben doch, was sie waren: schwäbisch, mit der entsprechenden Sprache: seeschwäbisch- alemannisch. Bei uns zu Hause, das war auch Baden, nannte man die Verwandten, die es zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf die andere Seite verschlagen hatte, nicht Schwaben (das waren und sind wir selbst), sondern, korrekt: Württemberger. Und wir waren die Badener, Schwaben wie sie. Und viele der Oberschwaben waren noch früher Österreicher. Die waren nicht auf der Seite Napoleons, als der den Kuchen verteilte. Nun gut.

Auch die Weißenau war ein reichsunmittelbares Chorherrenstift der Prämonstratenser, und zwar von 1145-1802/3. Damit ging auch etwas unter, etwas, das wir Epoche nennen. So ist es auch heute wieder in diesen Jahren, zum Beispiel geht wieder etwas unter und verschwindet und verschwindelt in der Globalisierungskelter oder im Globalisierungswolf: Mögen andere von ihrem Schmerz reden, ich rede von meinem: Nur ein mir naheliegendes Beispiel, wie dieser unheimliche Vorgang auch die kleinsten Einheiten erfasst, und in kürzester Zeit eine Welt zum Einsturz bringt, die für - sagen wir - tausend Jahre Bestand hatte. Ein kleines Beispiel, aber von heute: Die Geschichte meiner kleinen Pfarrei St. Michael von Rast, einem Dorf südlich von Meßkirch, das über Jahrhunderte zum reichsunmittelbaren geistlichen Territorium Petershausen gehörte, das ungefragt von der Landkarte verschwand und nun ein Stadtteil von Konstanz ist. Kaum ein Konstanzer von heute weiß das noch, daß Petershausen quasi ein anderer Staat war, so wie heute Kreuzlingen zu einem anderen Staat gehört. Mein Dorf wurde bei der neuesten Verwaltungs- und Kreisreform - was haben diese Gewaltakte für schöne Namen! - Reform, Reformation etc. - wiederum ungefragt dem allerdings sehr schönen Landkreis Sigmaringen zugeschlagen. (Ein Teil der Gerichtsbarkeit wurde aber, wie uns, auch mir, beim 950. Geburtstag der ersten Erwähnung Dr. Weber sagte, von Sigmaringen her ausgeübt. Das wusste vor Ort bisher keiner! Grazie, Herr Dr. Weber). Diese Geschichte der Pfarrei St. Michael (der Kirchenpatron lässt auf eine allerälteste Gründung in unseren Breiten schließen) geht nun auch endgültig zu Ende: Wie auch die Ortsgeschichte schon vor ein paar Jahrzehnten von außen beendet wurde.

Noch ein Akt des seit zweihundert Jahren herrschenden Utilitarismus, von dem auch die Kirchen erfasst sind, die für ihre nutzlos zu Immobilien gewordenen Gebäulichkeiten nun >händeringend<, wie es heißt, Investoren suchen, und das nicht zu Versilbernde sonst irgendwie loswerden wollen. Das sind die Kirchen. In Zeiten des Utilitarismus sollen in diesen Jahren nun auch die alten, über tausend Jahre lebenden Pfarreien, die viel älter als die Weißenau und jede politische Organisation im Baden-Württemberg von heute sind, von der Landkarte und wohl auch aus der lebendigen Gegenwart verschwinden. Sie gehen - unter oder auf - in neuen Einheiten, aber warum dieses Wort? Seelsorgeeinheit: Was für ein abscheuliches, administrationsfurienmonströses Wort! Da stecken wohl Köpfe dahinter, die ihr Heil nun auch bei McKinsey suchen. Doch wie soll der Mensch, der das Heil sucht, das Heil finden können zum Beispiel bei einer Kirche, die ihr Heil selbst bei Unternehmensberatungen wie McKinsey sucht, und in psychologische Heilsberatung geht? Was ist das für ein Heilsunternehmen, das von einer sogenannten Unternehmensberatung gecoacht werden muß?

>Ich bin, was ich bin, - oder ich bin nichts.<
Das sagt der gerade seliggesprochene englische Dichter, Konvertit und spätere Kardinal John Henry Newman. Katholisch-theologische Sprachverwaltungsbarbaren, vielleicht handelt es sich auch nur um gutmeinende Kleingeister, haben diesen Administrations- und Messungs-Begriff >Seelsorge-Einheit< für das neue Etwas, das ein gewisses Nichts ist, und 1000 Jahre Geschichte auslöscht, gefunden. Eine Pfarrei hatte ihren Patron, ihren Ortsheiligen, woraus die Menschen in Oberschwaben seit Jahrhunderten lebten, und von da ihr Selbstverständnis und das Recht auf ihre Wallfahrten und Flurprozessionen bezogen. Bei uns war es der heilige Michael, und dann noch Otmar von St. Gallen, noch ein Hinweis darauf, daß unsere kleine Kirche in die älteste Zeit Schwabens reicht. Ja, in der Globalisierungskelter – oder im Globalisierungswolf verschwindet nun, heute, das Leben, jenes Leben, das es gab, das schwöre ich bei den Kondensstreifen am Himmel meiner Kindheit.

Noch etwas Geschichte

Schwaben kam im Kernland nach 1805 nicht einmal mehr dem Namen nach vor. Manche sagen immer noch, als gälte dies eigentlich nicht mehr, >Schwäbisches Meer<. Andere an diesem Bodensee, etwa in Konstanz, das einst der Bischofssitz Schwabens war, ärgerten sich über diese Bezeichnung sogar, weil sie darin einen Vereinnahmungsversuch der Württemberger, die nun schon lange genug von unkundigen Zeitgenossen mit den Schwaben verwechselt werden, sehen. Laßberg weinte noch über den Verlust dieses Namens für das Land, auch am Bodensee. Offiziell blieb der Name Schwaben einzig als bayerischer Regierungsbezirk übrig, mit Augsburg als Hauptstadt. Für Walter Brecht, den Bruder Berthold Eugen Brechts (bekannt als Bertolt Brecht – in Berlin wird er mit einem Bayern verwechselt), erscheint diese Einverleibung Schwabens durch Bayern schon auf der ersten Seite seiner Erinnerungen >Unser Leben in Augsburg, damals< als eine der beiden größten Katastrophen, welche Augsburg bis dahin getroffen hatten. Die andere war eine Pest im Mittelalter.

Auch der gute Joseph Freiherr von Laßberg lebte schon in Zeiten des Utilitarismus, als dessen Spielart man auch die Säkularisation (perpetuiert im Wort >Säkularisierung<) bezeichnen kann: Worum ging es denn da? Es ging und geht immer um Macht und Erwerb der Herrschenden. Das waren Maßnahmen unter dem Vorwand der sogenannten Vernunft, mit der Zweckmäßigkeit als oberstem Handlungsprinzip. Wenn das kein Utilitarismus war - und ist! (Ich denke gerade jetzt wieder an die Energiewende. Das Verschwinden des Namens… Jetzt soll auch noch der Lebensraum selbst verschwinden, geopfert werden dem Utilitarismus im Gewande der sogenannten Energiewende.) Ich habe Laßbergs Wehklage über das Verschwinden des Namens Schwaben von der Länderkarte im Ohr, und wie ihn das schmerzte! – Das war damals – zur Zeit vom Wiener Kongreß, gewiß auch ein Stückweit Romantik, fast schon Spätromantik, vom Mythos der Endzeit infiziert. Und dann fügte er sich doch den Gegebenheiten. In einer vergleichbaren Endzeitwelt leben wir heute auch wieder. Aber vielleicht ist es doch so, daß jede Zeit die letzte ist, und sich manchmal so wahrnimmt oder auch nur empfindet.

Immerhin wollte sich der erste König von Württemberg, er heißt Friedrich, wie ich hörte, >König von Schwaben< nennen. Sein Name tut aber hier nichts zur Sache und zählt nicht zu meiner Geschichte. Wenn schon, dann singe ich mit größerem Recht das Badner Lied als eine entsprechende württembergische Hymne, die ich nicht kenne. Der neue König von Württemberg hat diesen Tagesordnungspunkt der Königwerdung mit dem zukünftigen Großherzog von Baden gesprochen. Der hatte allerdings etwas dagegen und behauptete, selbst Schwabe zu sein. Was er, mit größerem Recht als jener Friedrich, auch war. Denn der erste König von Württemberg, ich kannte ihn nicht persönlich, war wohl alles Mögliche: dick und geil, machtgeil und so fort. Aber gewiß kein Schwabe, wo es diese gerade genannten Phänomene zweifellos auch in Fülle gibt. Also nicht einer von jenen, von denen heute Abend die Rede ist. Er kam aus Pommern, lebte lange in Russland, und heiratete in zweiter Ehe eine aus dem englischen Königshaus, was mir alles sehr spanisch vorkommt, und war dann Herrscher über Menschen und Württemberger, die es büßen mußten. Also war das schon eine frühe, aristokratische Form der Globalisierung. Er hat gewiß zu Hause französisch gesprochen oder ein preußisches Idiom, aber gewiß nicht schwäbisch. Irre ich mich?

Auch damals, um 1806 herum, - und erst recht nach 1815 - muß es schon Konflikte gegeben haben, die jenen, viel späteren, durch den 9. November 1989 ausgelösten Verwerfungen ähneln, in dessen Folge sich die Namensgebung Alte Länder- Neue Länder durchsetzte, womit sich für meine Ohren auch ein feiner kolonialer Beiklang ergibt, so wie er für mich auch in >Altbayern< mitschwingt. Das hat etwas von >New Territories<. Und so mochte sich auch mancher Oberschwabe im 19. Jahrhundert vorkommen, ob er nun Baden oder Hohenzollern, Bayern oder Württemberg zugeschlagen wurde.

Mein Beitrag fußt auf dem Einverstandensein mit Baden-Württemberg, wie es nach dem 2. Weltkrieg erst geworden ist. Schon gut, Baden-Württemberg. Allerdings ist dieses neue Bundesland ein Work in Progress. Es gibt noch einiges zu tun, so in Oberschwaben, womit hier ausdrücklich nicht das württembergische vom Mercedesland aus lange als zurückgeblieben erachtete katholische Neuland südlich der Donau gemeint ist, wobei schon in der geographischen Zuordnung – „südlich von“ insgeheim zum Vorschein kommt, wer hier die Definitionshoheit und das Sagen hatte – daß hier von einem Zentrum aus gedacht wurde, das im Laufe von nur etwas mehr als 100 Jahren von manchem Menschen vor Ort verinnerlicht wurde. Das Oberschwaben, von dem hier die Rede ist, beschränkt sich also nicht auf die württembergischen Landkreise Ehingen, Biberach, Ravensburg und Teile des alten Bodenseekreises mit entsprechendem hohem Freizeitwert, womit sich aber gerade der Mensch aus dem Stuttgarter Raum am See nicht immer beliebt gemacht hat.

Ich könnte verrückt werden (aber es lohnt sich nicht, deswegen verrückt zu werden), wenn ich etwa beim 60. Geburtstag von Baden-Württemberg im TV höre, daß dieses Land aus einer Verbindung von Badenern und Schwaben entstanden sei, und wenn ich sogar in den höchsten Tageszeitungen lese, daß das Gegenteil von >badisch< >schwäbisch< sei. Es wäre auch für mich eine lebenslängliche Sisyphosarbeit zu erklären, daß der Gegensatz oder vielleicht auch nur der Komplementärbegriff zu badisch nicht schwäbisch ist, sondern württembergisch. Badisch gegen Schwäbisch: Welch ein Unsinn! (und was ist mit den Hohenlohern, den Kurpfälzern und den Franken in Baden-Württemberg?) Es gab eine Verschiebung des Namens. Und eine Verwirrung der Nachgeborenen. Mancher entsprechende Geist versteht - vielleicht ohne je darüber nachgedacht zu haben - den Begriff >schwäbisch< wohl von Stuttgart her. Eine Irreführung, die tagtäglich von den Medien, von den Zeitungen, den Radios und den TV-Programmen von S 3, und vor allem auch den Sportclubs mit ihrem auf Kampfgeist ausgerichteten künstlichen Feindschaftsbetreiben weitergepflegt wird.

Schwaben ist einerseits weniger als Württemberg, andererseits mehr, denn die Allgäuer sind - wie der ganze bayerische Regierungsbezirk mit Augsburg als Hauptstadt - auch Schwaben. Kurz: In zweihundert Jahren wurde mehrfach recycelt und gehirngewaschen, zum Beispiel eine bayerische Nationalität eingeimpft von Ludwig I. an. Die Neu-Ulmer mögen nun anders denken und nach München hin schauen. Das ist aber nicht die natürliche Richtung.

Was für die Deutschen gilt: daß sie sich wiedervereinigt haben, gilt für Schwaben nicht: es ist nach wie vor ein geteiltes Land – und nur unter dem größeren Dach der Bundesrepublik vereint. Es hätte aber auch so kommen können: daß die Donau bei Ulm nun eine Staatsgrenze wäre, so der Rhein, der mitten durch Konstanz fließt, und Sie wissen, daß mitten durch Konstanz heute die Außengrenze Europas verläuft.

Das ehemalige Zentrum mit seiner alten, ins Römische reichenden Geschichte, wurde immer mehr marginalisiert und geriet schließlich ganz an den Rand: Auch im Württembergischen Landesmuseum und in anderen Museen der Welt können Sie heute die schönsten seeschwäbischen (wie die Kunsthistoriker immer noch sagen) Kunst-Beispiele, zum Beispiel die Jesus-Johannes-Minne oder die Weingartner Liederhandschrift oder eine Reichenauer Illumination bewundern. Vor Ort, auf der Reichenau selbst, und auch in Konstanz, ist fast nichts mehr. In mehreren Bilderstürmeretappen (auch für Konstanz verheerende jene erste des protestantischen Bildersturms), zu denen ich auch die so genannte Säkularisation rechne, ist vor Ort alles zerstört oder abtransportiert worden.

Es war ja erst im 19. Jahrhundert. Mir fällt dabei und dazu das Wort: Kolonialismus ein. Und der Erfolg daran ist, daß es heute vergessen ist, und nur noch gelegentlich von sehr geschichtsempfindsamen Menschen überhaupt bemerkt wird, was hier vorging. Und was es war. Die Einheimischen, also auch ich, kamen und kommen sich zuweilen immer noch etwas kolonialisiert vor.

Die Geschichte, auch die Geschichte der Aufklärung, ist voller dunkler Stellen, Ambivalenzen, Zufälle und Launen. Voltaire verkündete uns, auch mir, sehr schön die Freiheit der Individualität und hatte in Sklavenhandel-Aktien investiert. Als eine eher zu verschmerzende Laune der Geschichte anzusehen ist es wohl, daß das alte, eigentliche Sachsen nun Niedersachsen heißt, während Sachsen heute sogar ein Bundesland ist, das mehrere hundert Kilometer entfernt vom eigentlichen Sachsen (das noch einen Nachklang im >Angelsachsen< hat bis zum heutigen Tag) liegt, Obersachsen heißen müsste. Und mit jenem Sachsen, gegen das Karl der sogenannte Große zog, nichts zu tun hat.

Eine ähnliche Verwirrung herrscht nun seit hundert Jahren vielleicht, auch bei >badisch und schwäbisch<, als wäre dies ein Gegensatz. Aber so wenig Karl der sogenannte Große gegen die Sachsen in der Gegend von Leipzig oder Dresden zog, (die es damals noch gar nicht gab, sondern eher gegen jene armen Menschen, deren Nachkommen, so sie überlebten und vor Ort blieben, heute in der Gegend von Bremen, Hamburg und Hannover leben und Niedersachsen genannt werden, statt Sachsen), so wenig ist Schwaben ein Gegensatz zu Baden. Auch wenn das ständig im Fernsehen kommt und in den Zeitungen steht und weiterhin stehen wird: es wird dadurch nicht wahrer.

Aber so wie das Wort Sachsen nach Osten rückte, so Schwaben nach Norden und nach Westen und wird heute in der Gegend von Stuttgart lokalisiert, das es noch gar nicht gab damals, und mit Stuttgart als Vorort identifiziert. Das war damals allenfalls nordwestliches Randgebiet von Schwaben. Auch die Animositäten – bis zum heutigen Tag in Berlin - richten sich gegen diese Schwaben. Das ist jedoch falsch und auch ungerecht. Und so fort.

Damals, als auch eine Welt zu Ende ging, 1803 - wurde die Weißenau erst von einem Adligen gekauft und nach ein paar Monaten wurde sie an den König von Württemberg weitergereicht. Geraume Zeit später wurde die Weißenau zur Heilanstalt ausgebaut. Und 1940 wurden im Rahmen der Aktion T4 - es war von hier aus und nicht von anderswo - insgesamt 691 Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder durch die sogenannten grauen Busse durch Oberschwaben und weiter bis nach Grafeneck gefahren, wo sie in der Tötungsanstalt Schloß Grafeneck vernichtet wurden: Es waren über 10 000 einzelne Schicksale.

Das ist eine Geschichte, in die ich mich andernorts vertieft habe, wie auch in die Geschichte der Vertreibung und Vernichtung der schwäbischen Juden (nur zum Beispiel: Einstein, die Familie stammte aus Buchau am Federsee), die schon von Anfang der schwäbischen Geschichte ein Teil derselben sind. Das waren aber
12 000 einzelne Schicksale. Wie viele Schicksale es bei den Sinti und Roma und den Homosexuellen sind, lässt sich auch nicht so einfach herausbringen. Nicht zu vergessen die Geistlichen, Priester und Pfarrer. Und dann noch die sonst, auch politisch Verfolgten, die in den seit 1933 eingerichteten sogenannten Konzentrationslagern verschwanden. Eines der ersten auf dem Territorium des heutigen Baden-Württemberg hieß: Heuberg, der mit seinen blauen Höhen mein Schwäbisch Mesopotamien gegen den Nordwesten hin begrenzt.

>Wohlfühlregion Nr.1<
Platz 1 unter den Wohlfühlregionen

Bis heute ist die Weißenau ein sogenanntes Zentrum für Psychiatrie. Und offiziell-administrativ ist Oberschwaben wieder der Name einer Region: Bodensee-Oberschwaben. Das lasse ich mir gerne gefallen. Heute ist Oberschwaben, das in den vergangenen Jahren wieder etwas, das heißt: ein enormes Selbstbewusstsein gewonnen hat, Platz 1 unter den Wohlfühlregionen Deutschlands (Stand Frühjahr 2006 – den letzten Platz belegte: Halle Saale - Rang 35) >Im Süden lebt es sich am besten< las ich im SÜDKURIER (Schlagzeile 27. April 2006) Zu diesem Schluß kommt die auf 620 000 Online-Teilnehmer abgestützte Untersuchung >Perspektive Deutschland< von McKinsey, dem ZDF, dem Magazin „Stern“ und dem Onlinedienst Web. de.<

Dieses Oberschwaben prangt und prunkt mit der geringsten Arbeitslosigkeit, welche auch darauf zurückzuführen ist, daß es eine Militär-High-Tech-Region ist, wovon allerdings in dieser Wohlfühlstudie nicht die Rede war. Es wird in alle Welt exportiert. Dazu gibt es zum Ausruhen auch noch den Bodensee. Als wäre der ein Panorama mit den Alpen dahinter. Als säße man in der ersten Reihe wie bei ARD und ZDF. Sehnsucht kommt freilich in diesen Statistiken so wenig vor wie der Schmerz, der gewesene, niemals zu verschmerzende. Sowenig wie die an das Fernsehen verlorene Sprache vorkommt, die eine von der Sprache der Sprachlosigkeit abgelöste Sprache ist (zusätzlich zu einer immer schon vorhandenen allgemeinen Sprachlosigkeit. Unserer Sprachlosigkeit). Auch die Selbstmörder, welche auch hier das Mainstreamglück, wie überall auf der Welt, skandalös in Frage stellen wie alles sprachverschlagendes Unglück, kommen in dieser Wohlfühlstudie (der wohl eine Vorstellung von Wohlfühlen und Leben zugrunde liegt, als wäre es Fit for fun) nicht vor. Also kommen auch das Glück und das Unglück in dieser Statistik nicht vor. Und doch gibt es das alles, gab es das, auch hier. Nur Wohlfühlwerte kommen vor, aufgrund guter Wirtschaftsdaten. Es ist ein dem Fernsehglück vergleichbares Glück. Fast schon virtuell.

Vor allem die Sprache

Ein Schriftsteller hat es ja nicht mit der Mehrheit zu tun, das ist die Aufgabe der Soziologen, Politiker und Meinungsforscher, sondern mit der Sprache, und dem einzelnen Menschen, und ist sein und ihr Anwalt, möglicherweise auch dann, wenn er oder sie schon tot oder ausgestorben ist. Also muß ich mit einem weiteren Beispiel der weltweiten Vereinnahmung aus unserer Zeit kommen, in der alles in der Globalisierungskelter, im Globalisierungswolf zu verschwinden scheint: die Menschen samt ihrer Sprache: Denn ich muß unbedingt noch etwas zur Sprache sagen, zur Muttersprache, meine sehr verehrten Damen und Herren. Es ist nicht schön, etwas Geliebtem beim Sterben zusehen zu müssen.

Für dieses langsame Sterben mag es verschiedene Gründe geben, und überhaupt: Die Welt ist so wie sie ist, ist größer als meine Sprache und ich, ist der Globalisierung ausgeliefert, und ihr Kollateralschaden ist unsere jeweilige Mutter-Sprache. Damit meine ich nicht das Deutsche, sondern die Muttersprache. Unsere Sprache machte unser Leben, unsere Unverwechselbarkeit ganz wesentlich aus. Den Meisten mag dieser Aspekt egal sein, einem Sprachmenschen nicht. Die Meisten haben vielleicht noch nicht einmal daran gedacht, daß das eine mit dem anderen zusammenhängen können: für mich aber ist es etwas Zentrales, beinahe das Wichtigste auf der Welt, und auch das Schönste: die Sprache, und daß wir uns einander etwas sagen könnten und miteinander sprechen könnten. Anders gesagt: das Herz meiner Arbeit ist die Sprache – in meinem Kopf ist es immer die Sprache als Muttersprache, von der aus ich instinktiv vielleicht ins Deutsche übersetze. All meine Bücher sind Übersetzungen aus meiner Muttersprache ins Deutsche.

Ich weiß nicht, vielleicht war es der Komplex des Landmenschen, der Stadt und Stadtsprache gegenüber, der dazu führte, daß nun Hochdeutsch schon im Kindergarten gesprochen wird, daß also etwas nachgeäfft wird und das Wertvollste und Unverwechselbarste, was wir haben in unserer kleinen Welt, aufgegeben wird. Fragen Sie einmal eine Kindergärtnerin oder eine einheimische Mutter, die nicht will, daß ihr Kind den Anschluß verliert, wenn im Kindergarten Schwäbisch-Alemannisch gesprochen wird, statt Hochdeutsch, und nicht schon von Anfang an Englisch, d.h. Amerikanisch gelernt wird. Freilich müssten die entsprechenden Kindergärtnerinnen und Mütter auch erst einmal richtig Hochdeutsch oder Englisch können. Aber da hapert es, genauso wie mit dem richtigen Schwäbisch. Denn ich höre da auch immer mehr eine fehlerhafte und mangelhaft gesprochene Muttersprache. Das macht mich, wie soll ich es sagen? Das macht einerseits wütend, andererseits traurig, meine sehr verehrten Damen und Herren.

Vielleicht hängt es nicht nur mit dem Fernsehen und der Mobilität und der Globalisierung zusammen, die aus der Welt eine einzige ferngesteuerte Provinz von einem virtuellen Ort aus macht. Wahrscheinlich sind es die Menschen selbst, die immer schon ein Mitläuferleben führten, nicht ihr eigenes, und bestenfalls ein solches führten, das von ihnen erwartet wurde. So mag es auch heute wieder sein, wenn ich die überaus schnelle, gewalttätige Absorption der Muttersprache, erst durch das Deutsche, aber vor allem auch Angloamerikanische, das erste Machtinstrument der Globalisierung, sehe. Die meisten konnten wohl immer schon gar nicht richtig sprechen, waren sprachschwach und sprachen eben ihre Muttersprache als Mitläufer, so wie sie nun ihr Deutsch oder Englisch als Mitläufersprache sprechen, wenn es hochkommt, als Informations- und Verständigungsinstrument. Was Sprache, wie ich sie meine, aber sein kann, wird vielleicht durch die Frage deutlich, was ein Gedicht sei. Einzelne gab es immer, denen etwas zu sagen glückte. Solche Menschen galten bei uns bestenfalls als Originale. Denn das Unverwechselbare hatte schon damals keinen Marktwert mehr und fast alle wollten sein wie die anderen, und ja nicht mit ihrem Leben und den dazugehörenden Sätzen auffallen und nicht ihr Leben führen, sondern ein anderes, jenes, das von ihnen erwartet wurde.

Auch hier, in Oberschwaben, sprechen nun jene, die nicht auffallen wollen, sich ihrer Muttersprache vielleicht sogar schämen, wie im Traumschiff-Fernsehen, und wollen nicht unverwechselbar sein, sondern – anscheinend, sage ich - verwechselbar. Angefangen mit der eigenen Sprache, die man den Kindern schon im Kindergarten austreiben will. Alle sollen gleich sprechen! - Warum nicht am besten gleich Amerikanisch! - Die Muttersprache, das Alemannische, zum Beispiel, ist doch für solche Zeitgenossen nur ein Nachteil im schon mit der Geburt beginnenden Konkurrenzkampf, als wäre das Leben nichts anderes. Wir befinden uns nach Darwin in einem >struggle for life<, einem Kampf um Leben, und ein > survival of the fittest<, ein Überleben und eine Selektion der Tüchtigsten. Der Stärkere triumphiert und bleibt übrig; - Und so soll es recht sein?

Manch fürsorgliche Mutter spricht nun schon mit ihrem Kind nicht mehr die Muttersprache, sondern versucht es auf hochdeutsch, um den sogenannten Anschluß nicht zu verlieren. Als wäre die Muttersprache keine Sprache, sondern ein Hindernis. So dachten und denken aber Leute, die in dieser und jeder Sprache einen Schatz sehen, nicht. Und ich denke schon gar nicht so. Und schon gar nicht heute. Aber das, nicht so zu denken, hilft ja in unserer globalisierten Welt nicht viel. Oder?

Ach, die Sprache. Ein Wort wie >Keulen< gab es nicht. Die Kühe galten im übrigen schon in der Antike als besonders schöne Tiere. So ist das noch an manchem Ort dieser Welt, die größer als Berlin ist. In meiner Sprache hatte es dieses Wort für so etwas nicht gegeben. Wenn schon, dann ganz genau: >doodschlaa!< hieß das. Keulen war das Wort, die grausige, technische Wortwahl von Menschen, die wohl weit weg vom ländlichen Leben aufgewachsen sind. Wie Menschen, die wohl noch nie den Hahnenschrei gehört haben am frühen Morgen, den Geruch einer gemähten Wiese nicht kennen, oder wie man durch den Nebel geht um Allerheiligen vom Ober- ins Unterdorf, die den Morgen- vom Abendhimmel nicht unterscheiden können, die nicht wissen, wie es ist, den ersten Frühapfel im Baumgarten aufzulesen.

Das Deutsche ist meine erste Fremdsprache. Auf diese Feststellung lege ich den allergrößten Wert. Die Sprache, die Muttersprache, ist praktisch schon im Kindergarten verboten. So daß die Muttersprache nur noch als Akzent, rudimentär und voller Grammatikfehler, ein Schattendasein führt. Früher war sie das Leben. Aber für dieses Thema reicht nun die Zeit nicht mehr, Entschuldigung.

Die Heimat kann für einen Schriftsteller von heute nur noch als Beschreibung der Heimatlosigkeit wiedergegeben werden. Die Muttersprache und mit ihr das Einzige, was für mich das Schönste an dem Wort Heimat sein kann, wird immer weniger. So langsam komme ich mir wie ein Eingeborener vor, in Zeiten, da im eigenen Lebensraum fremde Sprachen, wie das Hochdeutsche, das selbst von der angloamerikanischen Sprache der Globalisierung bedrängt wird, diskriminierend überhand nehmen. Gerade sprachlich, was für einen Schriftsteller, dessen Muttersprache, das Gesprochene, eben nicht Deutsch ist, sondern Schwäbisch-Alemannisch, wohl das Befremdendste ist, was es geben kann: sich in seiner eigenen Sprache in seinem eigenen sprachlichen Lebensraum wie ein Ausländer zu fühlen, dessen Landessprache keiner mehr spricht.

Globalisierung und Sprache

Wir sind alle Migranten, genau gesprochen seit Adam und Eva, seit der Vertreibung aus dem Paradies. Früher oder später sind wir oder unsere Voreltern da angekommen, wo wir jetzt sind. Ich staunte allerdings, als ich vor wenigen Tagen von einer Umfrage Kenntnis nahm, die besagt, daß eine Mehrheit der sogenannten jungen Generation im Verschwinden von Sprachen und Menschen, in der Globalisierung anscheinend etwas Positives sieht. Oder allenfalls mit dem berüchtigten Wort >Kollateralschaden< bedenkt. Daß mich das nachdenklich stimmt, und verstimmt hängt wohl damit zusammen, daß ich nun auch bald sechzig bin – und anders gesagt, daß jene Kindheit auf dem Lande lange her ist. Vielleicht ist es auch hier, wie immer schon: vielleicht wird hier das Neue als etwas Gutes begrüßt und wahrgenommen, während die Älteren, die auch einmal jünger waren, das Neue als Bedrohung ihrer Welt wahrnehmen – oder auch nur empfinden.

Von Google wollte ich wissen, wie es mir >Heilige Messe< übersetzt. Und ich bekam >Holy Fair<. Das ist es genau! Das ist Globalisierung, nämlich nicht wünschenswerte Erweiterung des Horizonts, sondern totalitäre Erfassung, Vereinseitigung, Reduktion des Menschen zum Verbraucher unter dem Diktat und Primat des Marktes, also des Geldes. Und wenn Herr Schremp von >international< gesprochen hat, dann dachte er an seinen Eroberungsversuch in den USA. Und das Wort >international< hält auch nicht, was es verspricht, sondern meint schlicht: anglo-amerikanisch. Der Beweis: im internationalen Kindergarten wird US-Englisch gesprochen, und so überall da, wo es >international< heißt. Interessant und traurig zugleich ist auch das Phänomen, daß die schöne englische Sprache ebenfalls abhanden kommt, ins Hintertreffen gerät und durch die globale Reduktion auf ihre technische (Informations-)Seite beschränkt, ihres Reichtums beraubt, ebenfalls missbraucht und geschändet wird.

Das Wort Fair – für Messe – konnte sich noch nicht durchsetzen. Wohl aber bald >University< für Universität, wie schon an der Zeppelin University in Friedrichshafen. Die Vorstellung von Universität hat sich ohnehin schon am british-amerikanischen Modell orientiert, mit seinem Bachelor etc, als wäre auch die Universität eine amerikanische Erfindung. Ja, Mit dem Wort >Universität< verhält es sich genau so. Als müsste der dumme alte Europäer von Amerika gesagt bekommen, was eine Universität ist. Da ist die Sprache manchmal ehrlicher: Zeppelin University, aber warum nicht. Also University! Das ist genau: also nicht mehr Universität, ein Ort, wo es um Bildung – und nicht so sehr um Ausbildung ging. Das machten damals hierzulande die Fachhochschulen. Der Mensch von hier und heute verwechselt zudem >international< mit amerikanisch und merkt nicht einmal, daß der >Bachelor< zum Beispiel, eine Mogelpackung ist. Früher hieß das Baccalaureat. Das gab es seit der Gründung der ersten Universitäten – übrigens Papstgründungen – in Bologna, Paris und Salamanca. Und eine Ewigkeit lang schon in den frankophonen Ländern.

Was heute, und zwar fast inflationär und zwar nach dem amerikanischen Muster >University< heißt, ist doch nur das, was hierzulande die gute alte Fachhochschule war, eingerichtet zur schnellen Produktion von besteinsetzbaren Fachkräften. Die ja gerade heute dringend nötig sind. Warum nicht! - Doch was hat das noch mit dem Wort Universität zu tun? - Warum diese Hochstapelei? Aber es handelt sich nicht mehr um jenes Phänomen, von dem nicht mehr Universität, wo es noch um Wissen und Bildung, und nicht um eine Ausbildung und ihre Verwertbarkeit ging.

Ich muß die Sprache heutzutage ständig rück-übersetzen. So zum Beispiel heißt >strukturschwach< – im guten alten Deutsch eigentlich: >arm<. So in der Administration, ein Wort, das im übrigen auch ein versteckter Anglizismus ist und der US-amerikanischen Administration, also dem Regierungsstab des amerikanischen Präsidenten (das ist politisch korrekt, denn eine Präsidentin gab es bisher noch nicht) nachgeäfft ist. Vorher gab es nämlich dieses Wort im Deutschen so nicht.

Mit dem Wort >Philosophie< verhält es sich genau so. Es bedeutet nämlich nicht mehr, wie bisher, Philosophie, also wörtlich aus dem Griechischen übersetzt: Weisheitsliebe, sondern >philosophy< und muß aus dem Amerikanischen übersetzt werden, damit es wie gemeint verstanden wird. Die amerikanische Welt muß beim neudeutschen Wort Philosophie unbedingt dazu gedacht werden. Diese Philosophie, wie sie heute in diesem Land hier gemeint wird, ist ein Begriff aus dem Marketing und der PR, eine Strategie, wie Produkte am besten verkauft werden können. >Also unsere Philosophie ist es…< So hat mittlerweile jede Firma eine Philosophie, die mit der alten Philosophie nichts mehr zu tun hat und nicht viel mehr als ein Homonym geworden ist. Damit genug.

Wie aber Wellness übersetzen? Mit: Die Seele baumeln lassen? Ob ich will oder nicht, bin ich diesem Wellness-Terror oder dieser Wellness-Philosophie ausgesetzt. Schon das Wort >Verbraucher< als neue Definition des Menschen fand ich schlimm genug. Aber nun soll der Verbraucher auf einmal wieder ein Mensch sein, und soll zu meiner Überraschung wieder eine Seele haben, die er auch noch baumeln lassen soll. So werben sie nun in ihren Hochglanzmagazinen. Aber ich weiß wirklich nicht, wie das gehen soll, bitteschön: Was soll das sein, und wie soll das gehen: die Seele baumeln lassen? Kann mir das jemand erklären?

Requiem auf das in der Globalisationskelter verschwundene Oberschwaben Oder: Die Heimat wird immer weniger

Wie soll ich es sagen: dies alles geschah in einer Zeit, als ganz allmählich, piano piano >sterben< durch >gehen< ersetzt wurde in den diesem Paradigmenwechsel entsprechenden Todesanzeigen, der Gelehrte durch den Experten, die Sehnsucht durch Fit for fun, die Existenz von >Schöner Wohnen<, die Hoffnung vom Spaß. >Der Mensch< wurde vom >Verbraucher< abgelöst, das Verlangen vom Wellness-Bereich. Und überhaupt, die Auflösung der Worte wie der Dinge: der Gelehrte wurde durch den Experten ersetzt, das Wort >Gewissen< durch das Wort >kritisch<. Da lebte nun der Verbraucher mit seinem ökologischen Windräder-Bewußtsein und seinem Grünen-Tonnen-Stolz, seinem Geräteschuppen-im-Landhausstil-Ehrgeiz, seinen Tennis- und Fitnessclub-Mitgliedschaften, seiner Ringstraßen-Vehemenz, seinem Gemeinschaftsantennen-Eifer, seinem Verkabelungsdrang und seinen Whirlpoolphantasien, verkehrsberuhigten Zonen, mülltrennungsgerechten Amsel-Drossel- und Finkenwegen, ihr Sonderangebots- und Schnäppchenwissen bei den Discountern, ihre Spermüllkalender-Daten in einer Zeit, da der Ikea-Katalog endgültig die Heilige Schrift überrundet hatte und überdies das meistgelesene Buch war und es hunderttausend so viel ADAC-Mitgliedschaften gab wie wirkliche Gläubige. Der Mensch lebte nun in seinen Neubaugebieten und führt eine Einfamilienhausexistenz mit integriertem Carport. Wie aus der Immobilienwerbung, lichtdurchflutet und bildschön. (Aus meinem Roman >Sehnsucht<)

Kurz: der Mensch führt nun eine Equipment- und Wellnessexistenz, ein Indoor- und Outdoorleben auf einer Fun- und Kompetenz-Basis, auf einer Experten- und Verbraucherbasis. Manchmal nimmt er nun auch Viagra. Doch der Mensch ist immer noch so sterblich wie seit Adam und Eva. Und der durchschnittliche Mensch legt sich immer noch zum Sterben hin, wenn es einmal so weit ist. Wenn er nicht schon vor seiner Zeit - unverhofft gehen muß - , wie man heute sagt, es kann auch bei einem Verkehrsunfall sein, und diese Toten nimmt der Mensch von heute ungefragter hin, als wären sie weniger als Kriegsopfer, noch ein Tribut an unsere große Zeit, die sich selbst für die größte hält mit all ihren Erfindungen und Fortschritten, von Automobil zum Fernseher, über den Computer bis hin zum world wide web, das für mich weniger eine Verbindung als eine Verstrickung ist.

Es gibt aber immer noch Menschen, denen der Gedanke an eine Schönheitsoperation, noch nicht gekommen ist, die noch nie von Botox und Dr. Mang gehört haben, die schon gar nicht wissen oder wissen wollen, was eine Mang-Nase ist - und eigentlich schon beim Wort >Schönheitsoperation< einschlafen. Das sind solche, die es nach wie vor für möglich halten, daß der Mensch sterblich ist und bleiben wird, und die sich dieser Tatsache weiterhin stellen wollen und möglicherweise auch abfinden mit ihr, ja von da ein bewusstes, und kein ferngesteuertes Leben, kein Mitläuferleben führen.

Es gibt immer noch ein katholisches Gebet, das bittet, vor einem plötzlichen Tod zu bewahren, wohlvorbereitet soll es sein, Ars Moriendi. Diese Kunst des Sterbens und der Vorbereitung auf den Tod. Das wurde einst auch in den oberschwäbischen Klöstern gelebt und gelehrt. Immer noch gibt es den Gedanken, daß wir sterblich sind, über den wir niemals hinauskommen werden, solange wir Menschen sind und keine Übermenschen. Für das meiste ist auch der Mensch von heute, also auch ich, zu dumm. Er muß also einfach glauben, so wie das, was ihm früher die Theologen gesagt haben. Der Wissenschafts- und Expertenglaube ist, zusammen mit dem Gesundheitswahn (der für mich ein Indiz der alten Angst vor dem Tod ist), vermittelt über den Medienglauben, das Charakteristikum unserer Zeit. Dazu kommt und paßt, daß der Mensch heute eher Spaß haben will, als Glaube, Hoffnung und Liebe. Heute ist es eher ein Leben im Sport- und Spaß- und Botoxbereich. Und die Hirnforscher haben das, wie auch Glaube, Hoffnung und Liebe zu chemischen Reaktionen erklärt. Davon kann jedoch ein Sprachmensch nicht leben.

Von den Dörfern zu den Dorfattrappen,
und von den Menschen zu den Verbrauchern

Eine alte Bäuerin, die nie den Führerschein gemacht hat, erzählte mir, wie ihre Nachbarin, auch eine Bäuerin, aber mit Führerschein, die nach wie vor in ihrem leeren, leergeräumten-leergeträumten Haus lebt, das eigentlich nur noch eine Bauernhausattrappe ist, mit dem Auto zum Aldi fährt, und vollgepackt mit H-Milch in Tetra- und Megapacks und anderen Lebensmitteln von dort zurückkommt. Die Landbewohner sind heute auf dem Land genauso weit weg vom natürlichen Leben wie die Bewohner irgendeiner Großstadt. Der Rest ist Tünche und Attrappe – und manchmal noch Folklore.

Das Dorf als solches hat keinen Anwalt mehr. Es ist bestenfalls zur Schlafstation verkommen. Kurz gesagt: Die Dörfer sind in ihrer Seele zerstört und zwar durch niemand anders als durch die Bewohner selbst, bzw. in einem Joint Venture von Gleichgültigkeit und Trägheit der einen und der Gier der anderen, von Investoren- und jenen, die Investoren anlocken wolle zu Grunde gegangen.

Unsere blinde Gier, Bauplätze zu verkaufen etc hat dahin geführt, wo wir uns nun finden. >S isch schad drum!< Sagt Johann Peter Hebel in seinem Gedicht >Die Vergänglichkeit<, als er von einem anderen Stern aus seinen Vater auf die zerstörte Stadt Basel, den heimatlichen Schwarzwald und Dorf seiner Mutter, Hausen im Wiesental, dereinst schauen lässt.

Heutzutage sind ALDI und ähnliche Phänomene unserer Welt flächendeckend über das Land verteilt, immerhin in der aristokratischeren Form von Aldi Süd. Es wird zwar auch in Oberschwaben gejammert und eine bio- und artgerechte Tierhaltung gefordert, daß es bio- und artgerecht zugeht, bis hin zum Bio- oder Ökometzger – und das ist fast schon alles. Spätestens beim grünen Grillabend, wo garantiert kein Schweinefleisch, damit auch Mosleme teilnehmen können, aber doch Putensteaks, Rind und Hammel in Form von Döner Kebab, das längst die Currywurst verdrängt hat, ist alles vergessen. Scheißegal, wo die Sachen herkommen.

Die Parteipolitikerin Claudia Roth sah ich neulich im Fernsehen sagen und schwärmen davon, wie gut sie Köfte zubereiten könne, das ist eine auch von mir sehr geschätzte türkische Hackfleischspezialität, allerdings nicht von Claudia Roth. Der Rest ist Machtpolitik und Entschuldigung, ich bin leider auch kein Vegetarier - das verhindert meine Herkunft. Nichts gegen Aldi oder Lidl, oder Schlecker, der ja auch von hier war. Aber manchmal gibt es dann erstaunlicherweise immer noch ein gewisses Unbehagen.

Das ist die säkularisierte, politisch korrekte Sprachregelung für >schlechtes Gewissen< über den Zustand der Welt. Gerade um Weihnachten herum, wenn auch der rührselige Mensch um Fischbach herum, der das Jahr über bei einem der Rüstungskonzerne sein tägliches Brot - es darf auch etwas mehr sein, Frau Metzger! - gerne einmal im Jahr noch >Stille Nacht, heilige Nacht< singt.

Gleichzeitig, manchmal aus denselben Mündern, die wissen, daß gerade der Champagner im ALDI das Superschnäppchen ist, denn Preis- und Leistungsverhältnis stimmen, kann man die Empörung über den Zustand der Welt, die Ungerechtigkeit, die Bankenkrise usf. vernehmen. als hätte das eine mit dem anderen nichts zu tun. Empörung ist eigentlich ein schönes Wort, und die Sache auch, denn es kommt von: Sich Empören, sich Aufrichten. Beim Latte Macchiato bejammert man auch hier - mitten in Oberschwaben - den bedauerlichen Zustand der Welt, spricht von der Klimakatastrophe, dem Ozonloch und dem unfairen Handel und so fort - warum nicht! Die Welt ist ja eine einzige himmelschreiende Ungerechtigkeit! Daß es fast schon zu viel ist für den einzelnen kleinen Menschen und fährt dann auf dem Nachhauseweg vielleicht noch zu Aldi und nimmt die neuesten Special Offers mit. Früher nannte man das wohl Schizophrenie. Oder man sagte dazu scheinheilig oder Heuchelei.

Von der Abschlachtungs- zur Abwrackprämie

Eine Bundesministerin, ihr Name tut eigentlich nichts zur Sache, hat übrigens als Ministerin für den Verbraucherschutz (sie wollte nicht mehr Landwirtschaftsministerin genannt werden) auf dem Höhepunkt des Rinderwahnsinn-Wahnsinns (noch ein High light der an Höhepunkten reichen Hysteriegeschichte der Deutschen, die noch lange nicht zu Ende ist [Anmerkung 20.12.2012: die Energiewende kam nach der Katastrophe von Fukushima, Japan, hinzu; dort ging es so weiter, und wir haben jene Katastrophe zu unserer gemacht in bester wahnhafter Tradition, und die Nachbarn und auch einige wie ich müssen das wieder einmal ausbaden und aushalten] die ich gerne schriebe, bliebe mir die Zeit dazu) angeordnet, daß so und so viel tausend Rinder - ich ekle mich noch heute vor diesem Wort im Mund dieser grünen Verbraucher-Ministerin - gekeult werden sollen. Alles der Wille zur Macht, getarnt als Sorge und Politik, und in den zeitgemäßen politischen Farben getüncht. Keulen - ich kannte dieses Wort nicht für so etwas. Keulen… Die Administrationsvokabel aus der Hauptstadt der Globalisationskelter, Brüssel, Abschlachtungsprämie auch nicht. Das wurde fraglos in Zeiten der CDU-Regierung übernommen. In meiner Sprache hatte es dieses Wort für so etwas nicht gegeben. Keulen: Das war die Wortwahl dieser Vorzeigegrünen, die wohl weit weg vom ländlichen Leben aufgewachsen ist wie Menschen, die wohl noch nie den Hahnenschrei gehört haben am frühen Morgen, den Geruch einer gemähten Wiesen nicht kennen, oder wie man durch den Nebel geht um Allerheiligen vom Ober- ins Unterdorf, die den Morgen- vom Abendhimmel nicht unterscheiden können, die nicht wissen, wie es ist, den ersten Frühapfel im Baumgarten aufzulesen.

Die Kühe galten im übrigen schon in der Antike als besonders schöne Tiere. Die Göttin Artemis hatte das Epitheton Ornans für ihre Augen: Kuhäugig. Bei den Dichtern: die kuhäugige Artemis. Ich hätte Abschlachten, Massaker dazu gesagt, was die grüne Ministerin Künast anordnete. Mich erinnerte das auch an die Abschlachtungsprämie der damaligen EG: für jede Kuh gab es tausend Mark, das muß um 1970 herum gewesen sein. Nun sind wir im Zeitalter der Abwrackprämien angelangt. Für mich macht das klar, daß diese Welt, in der ich lebe, nicht so schön sein kann, wie sie zu sein vorgibt. Ich habe dieser Aktion, der Abschlachtungsprämie, die mich schon damals mit 16 empörte, in meinem Buch >Mein Hund, meine Sau< ein Kapitel gewidmet: >Kleines Denkmal für Raiffeisen<. Es gibt noch solche, die das bedauern mögen, auch in Oberschwaben.

Ich darf mich aber auch nicht darüber täuschen, daß eine Mehrheit der heutigen Talkshow-Demokratie und ihrer Sprechblasen-Virtuosen, die heute in Zeiten der totalen Medienpräsenz keine schweigende mehr ist, durchaus mit all diesem zufrieden ist, wie es ist: Hörte ich nicht schon vor zwanzig Jahren oder mehr Einen aus dem Dorf sagen, daß es ein Segen sei, daß es nun auch einen Aldi in Meßkirch gebe? Und eine Outdoor-Messe in Friedrichshafen oder eine Sexmesse, aus der nun wunderbarerweise wieder Erotik geworden ist. Der Mann aus Meßkirch, der vor Jahrzehnten die erste ALDI-Filiale als Fortschrittszeichen einer neuen Zeit begrüßte. hat Recht behalten: Von einer überwältigenden Mehrheit wurde diese Einrichtung angenommen, und dann auch beim Firmenjubiläum entsprechend gefeiert: Man könne sich ein Leben ohne ALDI – und ähnliche Labels nicht mehr vorstellen. Ja, so ist es, das ist das real existierende Oberschwaben. Das ist die Welt, in der ich lebe. In der wir leben. Und Sie auch. Es ist die Zeit der Gedichte nicht mehr im sogenannten Land der Dichter und Denker. Das Wort >Philosophie< hat nun auch eine andere Bedeutung bekommen. Es bedeutet nicht mehr >Liebe zur Weisheit<, sondern eine Art Marketing-Strategie.

Schluß

Schließen möchte ich mit der Amerika-Karte von Waldseemüller – auch Walzenmüller (der im übrigen aus Radolfzell stammte, auch in Freiburg lebte), die nun auch nicht mehr da ist. Dieses Dokument, auf dem zum ersten Mal das Wort >Amerika< erscheint, war auch einer von unseren Schätzen Oberschwabens, was sage ich >unser< ! – Als der Herr Schröder, zusammen mit dem Herrn Fischer, die ich beide zum Glück nicht mehr jeden Tag in den Zeitungen und den Fernsehnachrichten sehen muß, glaubten, sie müssten eine kleine Entschädigung dafür anbieten, daß Deutschland nicht am Irakkrieg teilnehmen wollte – zum Glück! – haben sie die lange begehrte Waldseemüllerkarte herausgerückt, die Sie nun in der Library of Congress besichtigen können. Die unerhörte und illegale Transaktion dieses unschätzbaren Dokuments, das den Herren von Wolfegg gehörte, und vielleicht dort, im Herzen Oberschwabens – oder vielleicht auch in einem Schweizer Banktresor gehortet wurde, fand kurz vor dem 11.9. 2001 statt. Also gehört sie auch noch zu den Kollateralschäden jenes Tages. Kein Mensch sprach mehr über diese Gaunerei an höchster Stelle. Noch einem notorisch klammen Adelshaus Oberschwabens mag damit wieder einmal ein wenig weitergeholfen sein, wir, sage ich, wurden aber wieder einmal nicht gefragt. Das ist Geschichte, und noch ein Fall von Beutekunst und Bilderstürmerei, in der neuen Variante der totalitären Globalisierung. Aber immer noch gibt der Mensch seine Suchanzeigen auf.

FINIS

Poetischer Anhang

Erinnerung, zweite Gegenwart

Als ich ein Kind war, spielte ich mit einer Inbrunst und einer Leidenschaft, dass ich die Zeit vergaß. Es war eine Ewigkeit. Und eines unserer Spiele, bald nach der Laufgitterzeit, hieß auch so: Ewigkeit. Mit Rita und Luischen, unten, eine Art Doktorspiel - in der Garage an der Straße von Wien nach Paris. Hätte mich damals einer gefragt: Was hast du die ganze Zeit gemacht? dann hätte ich sagen können: Ich habe gelebt. Und nach der Zeit gefragt, hätte ich mir sagen müssen: Sie ist vergangen.

Als wir neulich, beim Klassentreffen, die Stelle von der Messerimpfung beim Baden im Lausheimer Weiher miteinander verglichen, und sahen, daß sie so schön verheilt war, so daß man nichts mehr davon sah, - mussten wir nichts als lachen. Doch wir hätten auch weinen können. Weil alle Stellen so schön verheilen. Nichts läßt man uns, nicht einmal den Schmerz, und eines Tages wird alles vergessen sein. Und nun? Und doch! Jeder.... Mensch, ob Mann, Frau, Schriftsteller, oder einfach Dichter und Idiot, hat eine Verletzung, eine Wunde, aus der es weiterblutet. Erinnerungsweise. Die Erinnerung ist eine Bluterkrankheit. Es fehlt wohl das Gerinnungselement des Vergessens.

>Ich blute, also bin ich<, das sollte mein erster Satz sein.

Das Frühjahr

war so spät bei uns, dass es immer erst im nächsten Jahr blühte. Alles fror, die Blumen und wir. Die Forsythien waren immer nur eine Erinnerung daran, dass es kalt, dass es nicht Frühjahr war.

Der Landmann ist auf dem Feld geblieben und ein Fremdwort geworden. Das Kind hat vergessen, was es fragen wollte. Der Lehrer weiß nicht mehr, was er erklären soll.

In einer Geschichte, die keine Notiz von uns nahm, wohnten wir in unserem Haus unter dem Strohdach mit dem Schmerz als Grundriss und mit dem Satz, der von Bett zu Bett weitergegeben wurde bei uns: dass das Leben kurz sei, so kurz, wie einmal das Dorf hinauf- und hinuntergelaufen. Dazu war es Tradition bei uns, daß, wenn einer starb, sein Bett zusammengeschlagen und verbrannt wurde. Daher kommt es, dass es kein altes Bett gibt bei uns. Nur die Stelle blieb die alte, der Ort, unsere Schlafkammer, unser Zeugungs-, Schlaf- und Sterbeplatz. Der Tod hatte hier seinen Platz im Leben. Ich könnte die Stelle zeigen.

Der Tod war in unserer Sprache nicht formulierbar. Nur die schwierigsten Konditionalformen und Futur II in der Sprache von Vater und Mutter, der Muttersprache, die ausgestorben, ausgerottet ist wie die Indianer. Alle, die dieses Haus verlassen haben: in den Krieg, nach Amerika, in die Fremde, auf unseren Friedhof, zum Schein – – –, jene, die wiederholt zurückkehrten, zum Schein: der eine Onkel aus Amerika, zum Beispiel, und die später vermissten Onkel vom Fronturlaub … Alles geschah, damit es vergessen sei.

Dennoch trotzten wir all diesem und schafften uns im Verlauf von zwei Olympiaden vier neue Sitzgarnituren an. Die dürftigen Angebote vom einzigen Polstergeschäft vor Ort kamen mit dem Bestellkatalog ins Haus. Immer wieder wurde eine neue Garnitur ausgesucht. Unser Raumausstatter, der nur einen Vornamen hatte (Jetzt kommt der Fritz!), zeigte seine Sachen im Katalog, die Garnituren; und eine davon bestellten wir. Nur die Farbe konnten wir uns ausdenken. Sie wurde vom Fritz vorgelesen. Und wenn sie dann ins Haus kam, gab es Geschrei und Tränen, bis zu Selbstmorddrohungen hin. Die Bilder waren ja schwarz und weiß. Aber diese Farbe wollte ich nicht!

Die Sitzgarnituren hatten gar nichts mit dem dumpfen Verschönerungsdrang zu tun, der im Lauf meiner Jahre alles zerstörte, was mir schön schien an diesem Dorf, in dem ich stehen und gehen lernte, und auch nichts mit Verschwendung, sondern waren ein vielleicht hilfloser Versuch, allem zu entkommen, eine Art Beschäftigungstherapie aus Schmerz über Kürze und Verlauf dieses Lebens hier. Eine vielleicht unstillbare Sehnsucht, sich auszuruhn. Ein Verlangen nach einem Ort zum Ausruhn – und trotz allem zu bleiben. Man muss die Sitzgarnituren philosophisch sehen.

Vielleicht waren es aber auch nur die Angst vor dem Tod und die Furcht vor dem Schmerz eines langsamen Sterbens, ausgelöst und bedingt durch die Nachstellungen der Raiffeisenbank, war es der Anruf von Bantle an jedem vorletzten Geschäftstag des Monats mit der Frage, ob wir das Zahlungsziel erreichten. Was ich am Ende, eines Freitags, entdeckte, war die Eintragung einer Grundschuld in Millionenhöhe, das heißt, ich entdeckte nur die Quittung über die Begleichung entsprechender Notariatskosten, einen kleinen Zettel, der in einer der Küchenschubladen herumlag.

Raiffeisen

Die Raiffeisenbank mit ihren Eintragungen ins Grundbuch war ja auch nur etwas Zweitrangiges. Dem vorausgegangen war unser Glaube, dass es aufwärts geht mit uns: unser unbeschreiblicher Fortschrittsglaube, den wir vielleicht mit dem großen armen Raiffeisen teilen. Wir haben uns von seinen Erben verführen lassen. Sie überredeten uns zu neuen Kuhfarben, zum Fortschritt bis zu der Stelle, wo dieser endet.

Eines Tages kam das Landwirtschaftsamt (von Brüssel über Bonn und Stuttgart dirigiert) und sagte, dass es für uns besser wäre, unsere Anwesen würden zu viehlosen Getreideanbaubetrieben (Amtssprache) umgemodelt. Es wurde für jede Kuh eine Abschlachtungsprämie in Aussicht gestellt. Wir machten auch mit. Für jede Kuh gab es tausend Mark. Das war ein Geschäft. Für jede Kuh, die ich doch jahrelang vom Feld geholt, durch die ich Zählen gelernt, sie bei ihrem Namen ansprach, sprechen gelernt, die ich fütterte, molk, liebte, gab es tausend Mark. Meine Lebensgefährten, mit denen ich, von denen ich lebte, die – lachen Sie nicht! – mein Leben waren, haben wir verkauft. Damals hatten wir noch etwas, dem wir über den Kopf streicheln konnten, und ihre Augen, waren sie nicht die schönsten? Gab es nicht das Epitheton ornans kuhäugig für die schönen Augen der Artemis? Eines Tages waren unsere Kühe verkauft, die schwarzen und das Meßkircher Höhenfleckvieh, alle. Der Abtransport durch Heidegger zog sich über einen ganzen Tag hin. Heidegger musste mehrere Male verladen, wegfahren, wiederkommen. Doch schließlich war es geschafft: die letzte Kuh im Viehwagen festgebunden. Heidegger schloss den Laden, hievte sich in seinen Viehwagen und fuhr zum Hof hinaus. Wir standen da und winkten nicht. Ein Glück, dass keiner von uns wusste, dass dies das Ende war.

Damals, als wir noch nach Schwackenreute fuhren, kehrten wir Gott sei Dank immer wieder nach Hause zurück. Wir mussten nicht in Schwackenreute übernachten. Von allem, was ich von Schwackenreute erinnere, war das schönste die Fahrt nach Hause, auch wenn sie durch denselben dunklen Wald führte, an der Kiesgrube vorbei und an allem, was immer war und nie.

Um halb fünf war das Abendessen in Schwackenreute. Die Bierwurst kam vom Nil, jenem Meßkircher Metzger, der die schwarze Kuh ebenfalls ablehnte. Dann drängte man in den Stall zum Melken, und wir durften zurückfahren. Es kam aber auch vor, dass man uns noch das Vieh zeigte. Dann mussten wir alle mit in den Stall hinunter, ob wir wollten oder nicht, und loben. So wie andere ihre Sammlung, ihre Bilder, Waffen, Geweihe und Briefmarken zeigen, so zeigte uns der Mostonkel seine prämierten Kühe, das braune Meßkircher Höhenfleckvieh und die dazugehörenden Plaketten von den Landwirtschaftsausstellungen am Stalltürchen, und wollte gelobt sein. Hatte eine Sau geworfen, mussten wir durch Spinnweben und verschimmeltes Heu in den hintersten Stall, das Wurfzimmer. Er wies auf die neugeborenen Lebewesen, die schönen Ferkel, und zählte, mit einem Stecken über sie hinwegfahrend, voller Stolz: Do-do-do – bis dreizehn. So viele waren es, die an der Mutterbrust hingen.

Und so endet Schwackenreute. Ich war ein Kind: ich war so groß wie eine Schwertlilie, und das Heu roch nach der unglücklichen Liebe des Himmels zur Erde.

Die Sprache war meine erste Fremdsprache… Muttersprache und Fremdsprache fielen zusammen in meinem Mund. Mit dem Wort Mama machte ich mich auf den Weg.

Lebenslauf

Ich wurde am 9.April 1954 in Meßkirch am Fuße des sogenannten Badischen Heubergs geboren.
Doch mein Heimatort ist das einige Kilometer südlich gelegene alte Dorf Rast, das nun, nach der großen Kreis- und Gemeindereform, zur Gemeinde Sauldorf gehört. Aus dem oberschwäbischen Bauerndorf, das Jahrhunderte lang Teil des in der Säkularisation aufgelösten Reichsklosters Petershausen bei Konstanz war, und im Jahr 1806 zum neuen Großherzogtum Baden geschlagen wurde, ist, wie aus den anderen Dörfern der Gegend auch, mittlerweile eine Feierabend- und Schlafstation geworden, deren Bewohner ihr Auskommen in der weniger strukturschwachen Nachbarschaft, in Tuttlingen zum Beispiel, finden. Unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg mit seinen verheerenden Folgen für die ganze Gegend, wurde das Dorf, wie andere Dörfer auch, durch Auswanderer aus den österreichischen Gegenden, die vom Dreißigjährigen Krieg verschont gewesen waren, wieder besiedelt oder aufgeforstet. Viele Familiennamen können auf diese Herkunft zurückgeführt werden, darunter auch Stadler.

Die ganzen Jahre über habe ich täglich, sonntags wie werktags, auf dem elterlichen Hof mitgearbeitet, sommers wie winters, und dadurch zugleich auch eine Zeit erlebt, die wahrscheinlich die größten Veränderungen dieses Dorfes in seiner gesamten Geschichte seit der Gründung in der Karolingerzeit erfahren hat.

Nach vierjährigem Besuch der Dorfschule in Rast, einer Zeit, in der sämtliche acht Klassen von einem einzigen Lehrer, Hans Stengel - aus dem Württembergischen und noch nicht dreißig Jahre alt - gleichzeitig in einem einzigen Raum unterrichtet wurden, wurde ich, da ich auf dem Hof unabkömmlich war, statt ins Konradihaus nach Konstanz, aufs Gymnasium nach Meßkirch geschickt.

Durch das strenge Regiment unseres Lehrers, das aber der Zeit entsprach und als Lehrmodell durchaus erfolgreich, war ich auf Meßkirch gut vorbereitet. Als zweiter Lehrer, der aber viel einflussreicher war für mich, kam noch der Pfarrer Dahringer, der aus Muggensturm bei Rastatt stammte, hinzu. Namentlich in den fast täglichen Messen, Religions- und Ministrantenstunden stieß ich zum ersten Mal auf die Schönheit der Sprache, und zwar auch in ihrer lateinischen Form, die in dieser Zeit noch die Kirchensprache war und die Vorstellung von dem, was Sprache ist, grundlegend prägte. Schon in der Zeit im Kindergarten im nahegelegenen Sauldorf, wohin die drei- bis Sechsjährigen noch zu Fuß gingen, wurde ich von kirchlicher Seite, der Ehrwürdigen Schwester Maria Radigundis, erzogen.

Diese Zeit ist mir in bester Erinnerung. Anders verhält es sich mit den Jahren als Schüler am Progymnasium in Meßkirch, das später, Mitte der Sechziger Jahre, zum Vollgymnasium erweitert wurde. Heute heißt diese Schule Heideggergymnasium. Ich habe dort im Jahr des Umzugs der Schule vom Schloß und Hauptgebäude am Schlossberg (jetzt Seniorenresidenz) das Abitur abgelegt. Es herrschte damals noch eine >Zweiklassengesellschaft<, und die Schüler wurden in Meßkircher und Heuberger Mistbollen eingeteilt. Es gab A- und B-Klassen, und die Trennungslinie war, ob der Schüler aus der Stadt kam oder vom Land.

All diese Erfahrungen der ersten 19 Jahre meines Lebens, die ich ausschließlich zwischen Rast und Meßkirch verbrachte, von sonntäglichen Fahrten zu den Großeltern nach Heudorf und von seltenen Ausflügen an den Bodensee, in den Schwarzwald, ins Allgäu und nach Vorarlberg unterbrochen, ermöglichten mir jedoch auch, zum Schriftsteller zu werden. Bis zum heutigen Tag vergegenwärtige ich in seinen Romanen auf literarische Weise immer wieder diese, meine erste Welt.

Anschließend studierte ich katholische Theologie und anderes, in München, Rom und Freiburg, wo ich auch das theologische Diplom ablegte (Diplomarbeit bei Professor Karl Lehmann, jetzt Kardinal). Danach studierte ich in einem Zweitstudium in Bonn, wo ich meine bisher einzige feste Stelle als wissenschaftlicher Assistent bei Beda Allemann nach dem zweiten Semester aufgab. Eine Dissertation mit einer Untersuchung zu Bertolt Brecht und Paul Celan wurde an der Philosophischen Fakultät Köln eingereicht und führte zum Dr. phil. (erschienen bei Böhlau in der Reihe: Kölner Germanistische Studien). Das war 1986. Unmittelbar darauf begann ich, Romane zu schreiben.


Vortrag „Reden von Oberschwaben“ Weißenau 20. 10. 2010. Gekürzte Fassung veröffentlicht in: Gesellschaft Oberschwaben und EnBW (Hg.): Reden von Oberschwaben 3. Sigmaringen 2013, S. 13-47.



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