Elmar L. Kuhn

Fundstücke - Ernst Jünger


Dezember 2016

Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen. (1939).
19. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta, 2008.

Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glücks ergreift. Wie unwiderruflich sind sie doch dahin, und unbarmherziger sind wir von ihnen getrennt als durch alle Entfernungen. Auch treten im Nachglanz die Bilder lockender hervor; … Und immer wieder tasten wir in unseren durstigen Träumen dem Vergangenen in jeder Einzelheit, in jeder Falte nach. Dann will es uns scheinen, als hätten wir das Maß des Lebens und der Liebe nicht bis zum Rande gefüllt gehabt, doch keine Reue bringt das Versäumte zurück. O möchte dieses Gefühl uns doch für jeden Augenblick des Glückes eine Lehre sein!

Und süßer noch wird die Erinnerung an unsere Mond- und Sonnenjahre, wenn jäher Schrecken sie beendete. Dann erst begreifen wir, wie sehr es schon ein Glücksfall für uns Menschen ist, wenn wir in unseren kleinen Gemeinschaften dahinleben, unter friedlichem Dach, bei guten Gesprächen und mit liebevollem Gruß am Morgen und zur Nacht. Ach, stets zu spät erkennen wir, daß damit schon das Füllhorn reich für uns geöffnet war.

So denke ich auch an die Zeiten, in denen wir an der Großen Marina lebten, zurück – erst die Erinnerung treibt ihren Zauber hervor. Damals freilich schien manche Sorge, mancher Kummer uns die Tage zu verdunkeln, …

Es gibt Epochen des Niederganges, in denen sich die Form verwischt, die innerst dem Leben vorgezeichnet ist. Wenn wir in sie geraten, taumeln wir als Wesen, die des Gleichgewichts ermangeln, hin und her. Wir sinken aus dumpfen Freuden in den dumpfen Schmerz, auch spiegelt sich ein Bewußtsein des Verlustes, das uns stets belebt, uns Zukunft und Vergangenheit verlockender. Wir weben in abgeschiedenen Zeiten oder in fernen Utopien, indes der Augenblick verfließt. …

Es fiel uns auf, daß jene Tage … Nebeltage waren, an denen das Land sein heiteres Gesicht verlor. Die Schwaden brauten dann aus den Wäldern wie aus üblen Küchen und wallten in breiten Bänken auf die Campagna vor. Sie stauten sich an den Marmorklippen und schoben bei Sonnenaufgabe träge Ströme ins Tal hinab, das bald bis an die Spitzen der Dome im weißen Dunst verschwunden war. Bei solchem Wetter fühlten wir uns der Augenkraft beraubt und spürten, daß sich das Unheil wie unter einem dichten Mantel ins Land einschlich. Wir taten daher gut, wenn wir den Tag bei Licht und Wein im Haus verbrachten; und dennoch trieb es uns oft, hinauszugehen. Es schien uns nämlich nicht allein, daß draußen die Feuerwürmer ihr Wesen trieben, sondern als ob zugleich das Land sich in der Form veränderte – als ob sich seine Wirklichkeit verminderte.

Daher beschlossen wir oft auch an Nebeltagen, auf Exkursion zu gehen, und suchten dann vor allem die Weidegründe auf. … An solchen Tagen waren die Treppenstufen, die auf die Marmorklippen führten, vom Nebel feucht, und kühle Winde sprühten die Schwaden über sie hinab. Obwohl sich auf den Weidegründen viel verändert hatte, waren uns doch die alten Pfade noch vertraut. Sie führten durch die Ruinen reicher Höfe, die nun ein kalter Brandgeruch durchwob. … Von den Kadavern, die auf den Weiden faulten, waren Seuchen aufgestiegen und hatten das große Sterben in die Herden eingeführt. So bringt der Untergang der Ordnung niemandem Heil. …

Sehr bald, wenn wir den Weidegrund verließen, bemerkten wir, daß die Gewalt nun näher und stärker war. Die Nebel wallten in den Büschen, und das Röhricht zischelte im Wind. Ja selbst der Boden, auf dem wir schritten, kam uns fremder und unbekannter vor. Vor allem aber war es bedenklich, daß sich die Erinnerung verlor. Dann wurde das Land ganz trügerisch und schwankend und den Gefilden ähnlich, die man in Träumen sieht. Zwar gab es immer Orte, die wir mit Sicherheit erkannten, doch gleich daneben wuchsen wie Inseln, die aus dem Meere tauchen, neue und rätselhafte Streifen an. Um hier die rechte und wahre Topographie zu schaffen, bedurfte es unserer ganzen Kraft. …

Und wirklich ergriff uns, wenn wir einsam in Moor und Röhricht standen, das Beginnen oft wie ein feines Spiel mit Zug und Gegenzug. Dann brauten die Nebel stärker auf, und doch schien auch in unserem Innern zugleich die Kraft zu wachsen, die Ordnung schafft. …

Wir wußten später nicht zu sagen, wie lange wir den Spuk betrachtet hatten … Nun kannten wir die üble Küche, aus der die Nebel über die Marina zogen… Das sind die Keller, darauf die stolzen Schlösser der Tyrannen sich erheben und über denen man die Wohlgerüche ihrer Feste sich kräuseln sieht: Stankhöhlen grauenhafter Sorte, darinnen auf alle Ewigkeit verworfenes Gelichter sich an der Schändung der Menschenwürde und Menschenfreiheit schauerlich ergötzt. Dann schweigen die Musen, und die Wahrheit beginnt zu flackern wie eine Leuchte in böser Wetterluft. Da sieht man die Schwachen schon weichen, wenn kaum die ersten Nebel brauen, …

S. 5f., 27, 74-79, 85

 



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