Elmar L. Kuhn

Fundstücke - Pier Paolo Pasolini


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August 2025

Pier Paolo Pasolini
Die Poesie der Tradition

Unselige Generation!
Was wird morgen geschehen, wenn so eine Führungsschicht –
Als sie ihre ersten Schritte taten
Lernten sie die Poesie der Tradition nicht kennen
Machten nur eine unglückliche Erfahrung von ihr, denn ohne
Realistisches Lächeln war sie ihnen unerreichbar
Und auch bei dem bisschen, was sie von ihr kennenlernten
Mussten sie noch beweisen
Dass sie`s zwar kennen wollten, aber mit Distanz, unbeteiligt
Unselige Generation!
Im Winter trugst du phantastische Mäntel und Schals
Und warst verwöhnt
Wer lehrte dich so überheblich zu sein?
Du verdrängtest deine göttlich-kindlichen Ungewissheiten –
Wer nicht aggressiv ist, ist ein Feind des Volkes! Ach!
Die Bücher, die alten Bücher glitten vorbei unter deinen Augen
Wie Objekte von einem alten Feind
Du fühltest die Pflicht nicht nachzugeben
Vor Schönheit, hervorgegangen aus vergangenem Unrecht
Im Grunde warst du den guten Gefühlen geweiht
Gegen die du dich wehrtest wie gegen die Schönheit
v Mit dem Rassenhass gegen die Leidenschaft;
Du kamst zur Welt, die groß ist und doch so einfach
Und fandest dort Leute, die lachten über die Tradition
Und nahmst diese vorgetäuscht boshafte Ironie beim Wort
Und erichtetest jugendliche Barrikaden
Gegen die herrschende Klasse der Vergangenheit.
Jugend geht schnell vorbei; unselige Generation
Du wirst älter werden und schließlich alt
Ohne genossen zu haben, was du berechtigt warst zu genießen
Und was man nicht ohne Sehnsucht und Demut genießt
Und wirst so begreifen, dass du der Welt gedient hast
Gegen die du voll Eifer „den Kampf vorantriebst“:
Sie war es, die die Geschichte in Verruf bringen wollte – ihre!
Sie war es, die die Vergangenheit ausräumen wollte – ihre!
Unselige Generation, und du gehorchtest im Ungehorsam!
Es war jene Welt, die von ihren neuen Kindern erlangte,
ihr zu helfen, sich zu widersprechen, um weiterzugehen,
ihr werdet altern ohne die Liebe zu Büchern und zum Leben:
perfekte Bewohner jener erneuerten Welt, erneuert
durch ihre Reaktionen und Repressionen, gewiss, schon wahr
aber vor allem durch euch, die ihr rebelliertet
genau wie sie es wollte. Automat weil eben das Ganze;
euch füllten sich nicht die Augen mit Tränen
vor einem Baptisterium mit Zunftmeistern und Gesellen,
strebend bemüht von Saison zu Saison
keine Bauten hattet ihr für eine Renaissance-Oktave,
keine Tränen (intellektuelle, aus reiner Vernunft)
ihr kanntet oder erkanntet weder die Tabernakel der Ahnen
noch die Sitze der Väter-Herren, gemalt von
und all die anderen erhabenen Dinge
euch lässt nicht zusammenfahren (mit jenen heißen Tränen)
der Vers eines anonymen symbolistischen Dichters, gestorben im –
Der Klassenkampf vertröstete euch und hinderte euch zu weinen;
Verhärtet gegen alles, was nicht nach guten Gefühlen aussah
Und nach verzweifelter Aggressivität
Verbrachtet ihr eine Jugend
Und wenn ihr Intellektuelle wart
Wolltet ihr es nicht voll und ganz sein
Dabei war dies von allen den vielen dann eure wahre Pflicht

Unselige Generation
du wirst weinen, aber leblose Tränen

Pier Paolo Pasolini: Das Herz der Vernunft. Gedichte, Geschichten, Polemiken, Bilder. Hg. Burkhart Kroeber. Berlin: Wagenbach, 1986 (Wagenbachs Taschenbücherei 134), S. 188f. Vgl. Pier Paolo Pasolini: Nach meinem Tod zu veröffentlichen. Späte Gedichte. Hg. Theresia Prammer. Berlin: Suhrkamp, 2021, S.407-411.



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