August 2025
Unselige Generation! Was wird morgen geschehen, wenn so eine Führungsschicht – Als sie ihre ersten Schritte taten Lernten sie die Poesie der Tradition nicht kennen Machten nur eine unglückliche Erfahrung von ihr, denn ohne Realistisches Lächeln war sie ihnen unerreichbar Und auch bei dem bisschen, was sie von ihr kennenlernten Mussten sie noch beweisen Dass sie`s zwar kennen wollten, aber mit Distanz, unbeteiligt Unselige Generation! Im Winter trugst du phantastische Mäntel und Schals Und warst verwöhnt Wer lehrte dich so überheblich zu sein? Du verdrängtest deine göttlich-kindlichen Ungewissheiten – Wer nicht aggressiv ist, ist ein Feind des Volkes! Ach! Die Bücher, die alten Bücher glitten vorbei unter deinen Augen Wie Objekte von einem alten Feind Du fühltest die Pflicht nicht nachzugeben Vor Schönheit, hervorgegangen aus vergangenem Unrecht Im Grunde warst du den guten Gefühlen geweiht Gegen die du dich wehrtest wie gegen die Schönheitv Mit dem Rassenhass gegen die Leidenschaft; Du kamst zur Welt, die groß ist und doch so einfach Und fandest dort Leute, die lachten über die Tradition Und nahmst diese vorgetäuscht boshafte Ironie beim Wort Und erichtetest jugendliche Barrikaden Gegen die herrschende Klasse der Vergangenheit. Jugend geht schnell vorbei; unselige Generation Du wirst älter werden und schließlich alt Ohne genossen zu haben, was du berechtigt warst zu genießen Und was man nicht ohne Sehnsucht und Demut genießt Und wirst so begreifen, dass du der Welt gedient hast Gegen die du voll Eifer „den Kampf vorantriebst“: Sie war es, die die Geschichte in Verruf bringen wollte – ihre! Sie war es, die die Vergangenheit ausräumen wollte – ihre! Unselige Generation, und du gehorchtest im Ungehorsam! Es war jene Welt, die von ihren neuen Kindern erlangte, ihr zu helfen, sich zu widersprechen, um weiterzugehen, ihr werdet altern ohne die Liebe zu Büchern und zum Leben: perfekte Bewohner jener erneuerten Welt, erneuert durch ihre Reaktionen und Repressionen, gewiss, schon wahr aber vor allem durch euch, die ihr rebelliertet genau wie sie es wollte. Automat weil eben das Ganze; euch füllten sich nicht die Augen mit Tränen vor einem Baptisterium mit Zunftmeistern und Gesellen, strebend bemüht von Saison zu Saison keine Bauten hattet ihr für eine Renaissance-Oktave, keine Tränen (intellektuelle, aus reiner Vernunft) ihr kanntet oder erkanntet weder die Tabernakel der Ahnen noch die Sitze der Väter-Herren, gemalt von und all die anderen erhabenen Dinge euch lässt nicht zusammenfahren (mit jenen heißen Tränen) der Vers eines anonymen symbolistischen Dichters, gestorben im – Der Klassenkampf vertröstete euch und hinderte euch zu weinen; Verhärtet gegen alles, was nicht nach guten Gefühlen aussah Und nach verzweifelter Aggressivität Verbrachtet ihr eine Jugend Und wenn ihr Intellektuelle wart Wolltet ihr es nicht voll und ganz sein Dabei war dies von allen den vielen dann eure wahre Pflicht … Unselige Generation du wirst weinen, aber leblose Tränen Pier Paolo Pasolini: Das Herz der Vernunft. Gedichte, Geschichten, Polemiken, Bilder. Hg. Burkhart Kroeber. Berlin: Wagenbach, 1986 (Wagenbachs Taschenbücherei 134), S. 188f. Vgl. Pier Paolo Pasolini: Nach meinem Tod zu veröffentlichen. Späte Gedichte. Hg. Theresia Prammer. Berlin: Suhrkamp, 2021, S.407-411.